Solange am Himmel Sterne stehen
abgenommen; vermutlich hatte sie sich ein bisschen aufs Ohr gelegt, was sie in letzter Zeit immer öfter zu tun schien. »Wir müssen ihr sagen, dass ich dich gefunden habe. Auch wenn sie es vielleicht nicht versteht oder sich nicht erinnert.«
»Natürlich«, sagt Alain. »Und dann werde ich mit dir zurückfliegen. Zurück ans Cape Cod.«
Ich drehe mich um und starre ihn an. »Wirklich? Du wirst mit mir zurückfliegen?«
Er lächelt. »Ich habe siebzig Jahre ohne Familie verbracht«, sagt er. »Ich will nicht einen Augenblick länger verschwenden. Ich muss Rose sehen.«
Ich lächele in die Dunkelheit.
Als die letzten Strahlen der Sonne am Horizont versunken und alle Sterne aufgegangen sind, hakt sich Alain bei mir unter, und wir gehen langsam zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, auf den prächtigen Louvre zu, der in gedämpftem Licht erstrahlt, mit seinem Spiegelbild auf dem Fluss unter uns.
»Jetzt werde ich dir von Jacob erzählen«, sagt Alain leise, während wir durch den Innenhof des Louvre in Richtung Rue de Rivoli gehen.
Ich sehe ihn an und nicke. Mir wird bewusst, dass ich den Atem anhalte.
Alain holt einmal tief Luft und beginnt mit langsamer, stockender Stimme. »Ich war mit Rose zusammen, als sie ihn kennenlernte. Es war Ende 1940, und obwohl Paris bereits an die Deutschen gefallen war, war das Leben noch immer normal genug, um glauben zu können, es würde alles gut werden. Unsere Lage verschlechterte sich zwar, aber wir hätten uns nie vorstellen können, was noch alles auf uns zukommen sollte.«
Wir biegen nach rechts in die Rue de Rivoli ein, auf der noch immer reges Treiben herrscht, obwohl die Geschäfte jetzt geschlossen sind. Pärchen schlendern Händchen haltend und miteinander flüsternd durch die Dunkelheit, und einen Moment lang kann ich mir vorstellen, wie Mamie und dieser Jacob vor siebzig Jahren durch genau diese Straße gegangen sind. Ich schaudere.
»Es war Liebe auf den ersten Blick, wie ich sie weder davor noch danach je wieder gesehen habe«, fährt Alain fort. »Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Aber es war vom ersten Augenblick an, als hätten sie die andere Hälfte ihrer Seelen gefunden.«
So kitschig es auch klingt, liegt in Alains Stimme doch ein solcher Ernst, dass ich ihm einfach glauben muss.
»Von jenem ersten Augenblick an war Jacob immer bei uns«, fährt Alain fort. »Mein Vater wollte nichts von ihm wissen, da er aus einer unteren Schicht stammte. Mein Vater war Arzt, während Jacobs Vater Fabrikarbeiter war. Aber Jacob war freundlich, höflich und intelligent, sodass meine Eltern ihn duldeten. Er nahm sich immer Zeit, um mir etwas zu erklären und mit David und Danielle zu spielen.«
Alain hält einen Augenblick inne, und ich stelle mir vor, dass er an seinen kleinen Bruder und seine kleine Schwester denkt, die er vor so langer Zeit verloren hat. Wir gehen eine Zeit lang schweigend, und ich frage mich, wie es sein muss, in so jungen Jahren seine Unschuld vollständig zu verlieren und sie nie wiedererlangen zu können. Wir kommen am Hôtel de Ville vorbei, das in fahles Licht getaucht ist. Alain nimmt meine Hand, als wir die Straße überqueren, und während wir in nördlicher Richtung weiter ins Marais gehen, lässt er sie nicht mehr los. Und mir wird bewusst, dass ich das auch gar nicht will. Ich habe auch eine Familie vermisst, jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da ist und das Gedächtnis meiner Großmutter nahezu verschwunden ist.
»Als die ersten antijüdischen Gesetze erlassen wurden und unsere Lage sich verschlechterte, begann Jacob, freimütiger über seinen Widerstand gegen die Nazis zu sprechen, und meine Eltern machten sich Sorgen«, fährt Alain fort. »Weißt du, mein Vater wollte glauben, wir seien sicher, da wir wohlhabend waren. Er wollte glauben, dass die Leute maßlos übertrieben, dass die Nazis nicht wirklich vorhätten, uns etwas anzutun. Jacob hingegen verstand genau, was Sache war. Er gehörte einer Untergrundbewegung an. Er glaubte, dass die Nazis uns alle vom Antlitz der Erde auslöschen wollten. Er hatte natürlich recht.
Rückblickend frage ich mich, warum meine Eltern die Lage damals nicht klarer erkannt haben«, sagt Alain. »Ich glaube, sie wollten nicht glauben, dass unser Land uns den Rücken kehren würde. Sie wollten an das Beste glauben. Und als Jacob die Wahrheit aussprach, da wollten sie sie nicht hören. Mein Vater war empört und warf ihm vor, Lügen und
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