Solange am Himmel Sterne stehen
Propaganda in unser Haus zu bringen. Rose und ich waren die Einzigen, die ihm glaubten.« Alains Stimme ist hohl, fast ein Flüstern. »Und das hat uns beiden das Leben gerettet.«
Wir gehen noch eine Weile schweigend. Unsere Schritte hallen von den steinernen Mauern um uns wider.
»Wo ist Jacob jetzt?«, frage ich schließlich.
Alain bleibt unvermittelt stehen und sieht mich an. Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob er noch lebt.«
Mein Herz verkrampft sich schmerzhaft.
»Das letzte Mal haben wir uns 1952 gesprochen, als Jacob nach Amerika aufgebrochen ist«, sagt Alain.
Ich starre ihn an. »Er ist nach Amerika gegangen?«
Alain nickt. »Ja. Ich weiß nicht, wohin in Amerika. Aber das ist natürlich fast sechzig Jahre her. Er wäre jetzt siebenundachtzig. Es ist gut möglich, dass er nicht mehr lebt. Vergiss nicht, er war zwei Jahre in Auschwitz, Hope. Das fordert seinen Tribut.«
Ich wage nicht zu sprechen, bis wir wieder bei Alains Wohnhaus angekommen sind. Ich kann noch immer nicht fassen, dass meine Großmutter und ihre offensichtliche große Liebe sechzig Jahre in ein und demselben Land gelebt haben, ohne je zu wissen, dass der andere überlebt hatte. Aber wenn Jacob sie während des Krieges gefunden hätte, dann wäre meine Mutter vielleicht nie geboren worden und ich natürlich auch nicht. War also letztendlich alles so gekommen, wie es kommen sollte? Oder war meine eigene Existenz ein Schlag ins Gesicht der wahren Liebe?
»Ich muss versuchen, ihn zu finden«, sage ich, während Alain den Code in das Tastenfeld rechts neben der Tür eingibt. Er hält mir die Tür auf.
»Ja«, stimmt er mir schlicht zu.
Ich folge ihm hoch in seine Wohnung. Ich fühle mich wie benebelt.
»Wollen wir es jetzt noch einmal bei Rose versuchen?«, fragt er, sobald er die Tür hinter uns geschlossen hat.
Ich nicke wieder. »Aber vergiss nicht, sie hat gute und schlechte Tage«, erinnere ich ihn. »Es ist sehr gut möglich, dass sie nicht verstehen wird, wer du bist. Sie ist anders, als sie früher einmal war.«
Er lächelt. »Wir sind alle anders, als wir früher einmal waren«, sagt er. »Ich verstehe das.«
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist kurz vor zehn, das heißt, am Cape müsste es jetzt kurz vor vier sein, so spät am Tag, dass Mamie vermutlich in einem Dämmerzustand ist; bei Demenzpatienten lässt die geistige Klarheit im Laufe des Tages oft nach. »Hast du auch bestimmt nichts dagegen, wenn ich sie von deinem Telefon aus anrufe?«, frage ich. »Es ist teuer.«
Alain lacht. »Und wenn es eine Million Euro kosten würde, ich würde es trotzdem wollen.«
Ich lächele, nehme den Hörer ab und wähle die 001 und dann Mamies Nummer. Ich lasse es sechsmal klingeln, bevor ich wieder auflege. »Das ist ja seltsam«, sage ich. Ich sehe noch einmal auf die Uhr. Mamie nimmt nicht an den gesellschaftlichen Aktivitäten in ihrem Heim teil – sie sagt, Bingo sei etwas für Kinder –, daher gibt es keinen Grund, weshalb sie nicht auf ihrem Zimmer sein sollte. »Vielleicht habe ich mich verwählt.«
Ich versuche es noch einmal, und diesmal lasse ich es achtmal klingeln, bevor ich wieder auflege. Alain sieht mich stirnrunzelnd an, und obwohl ich ein ungutes Gefühl im Bauch habe, zwinge ich mich zu einem Lächeln. »Sie geht nicht ans Telefon, aber vielleicht ist meine Tochter mit ihr spazieren gegangen oder so.«
Alain nickt, aber er blickt besorgt.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich es bei ihr versuche?«, frage ich. »Bei meiner Tochter?«
»Natürlich nicht«, sagt Alain. »Nur zu.«
Ich wähle die 001 und dann Annies Handynummer. Sie nimmt beim ersten Klingeln ab. »Mom?«, fragt sie, und ich kann an ihrer Stimme hören, dass irgendetwas nicht stimmt.
»Was ist los, Schatz?«, frage ich.
»Es ist wegen Mamie«, sagt sie. Ihre Stimme bebt. »Sie … sie hatte einen Schlaganfall.«
Mir stockt das Herz, und ich sehe fassungslos zu Alain hoch. Ich weiß, dass er mir alles am Gesicht ablesen kann.
»Ist sie …?«, frage ich. Ich führe den Satz nicht zu Ende.
»Sie ist im Krankenhaus«, antwortet Annie. »Aber es geht ihr nicht gut.«
»O mein Gott.« Ich sehe wieder zu Alain hoch, der jetzt panisch blickt.
»Was ist passiert?«, fragt er.
Ich halte eine Hand über den Hörer und sage: »Meine Großmutter hatte einen Schlaganfall. Sie ist im Krankenhaus.«
Alain fährt sich mit einer Hand an den Mund, während ich meine Aufmerksamkeit wieder meiner
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