Solange, bis ich dich finde: Roman (German Edition)
Verzweiflung und Angst. Sie ist kein böser Mensch, das spüre ich. Jetzt tut sie mir irgendwie leid.
„Was wollen Sie?“, fragt sie mich.
„Wo? Ich meine wo ist er?“
Plötzlich schaut mich diese Frau irritiert an, fast so, als könne sie nicht glauben, dass ich nicht weiß, wo er ist.
„Sie waren wirklich nicht bei meinem Mann?“ fragt sie mich.
„Nein, ich wohne hier.“
„Und wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“
„Bei der Theatervorstellung.“
„Bei der Theatervorstellung? Und seither nicht mehr? Dann hat er also diese Affäre beendet?“
„Welche Affäre? Hören Sie, ich kenne Ihren Mann überhaupt nicht.“
„Und wieso ist dann wegen Ihnen unsere Ehe fast kaputt?“
Diese Frage kann ich ihr nicht beantworten. Ich stehe fassungslos vor ihr und spüre, wie große Freude in mir aufsteigt, so, als könnte ich die ganze Welt umarmen und Bäume ausreißen, und zugleich muss ich mich zusammenreißen, darf mir nichts anmerken lassen. Es fühlt sich an, als wäre ich ein Behälter, der unter Druck steht und jeden Moment platzen kann.
„Ich verstehe nicht“, sage ich traurig. Diese Frau scheint sichtlich betroffen zu sein, dreht sich ohne Worte um und läuft mit gesenktem Kopf weiter.
„Warten Sie“, rufe ich.
Es ist mir klar, dass es jegliche Grenzen von Anstand sprengt, wenn ich Sie nach ihrem Mann frage, aber ich halte es nicht aus. Ich muss ihn sehen.
„Wo ist er?“
Sie sieht mich an und Tränen steigen in ihren Augen auf. Jetzt merke ich, wie ich gerade dabei bin, eine Welt – ihre Welt – zu zerstören. Ich fühle mich schlecht und blicke auf den Boden, denn nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich eine Antwort von ihr haben möchte. Es ist ihr Mann. Was mache ich eigentlich? Ich habe kein Recht, ihr den Mann wegzunehmen.
„Es tut mir leid“, sage ich ruhig, immer noch mit gesenktem Kopf, drehe mich um und gehe zurück. Auf dem Weg zu meiner Wohnung schaue ich nicht mehr nach ihr zurück. Dieses Glück, das ich soeben empfand, hat sich schlagartig in Schmerz verwandelt. Unweigerlich fließen Tränen an meinem Gesicht herunter. Noch auf der Treppe muss ich mich setzen. Ich schaffe es einfach nicht mehr die Wohnungstüre zu öffnen und breche in Schmerztränen zusammen.
Die letzten Tage waren schlimm für mich. Von der Außenwelt wollte ich nichts mehr wissen und meinen Plan, jeden Tag zum Zug zu gehen, habe ich verworfen. Ständig klingelt mein Telefon und der Anrufbeantworter springt an. Die Galerie hat bestimmt schon zehn Nachrichten hinterlassen. Es ist mir klar, dass, wenn ich mich nicht melde, sie jemand anderen nehmen für die Bilderausstellung. Kisten liegen hochgestapelt vor mir und an der Türe klingeln ständig die Bauarbeiter, die den Auftrag haben, die Heizungen und die Türen auszuwechseln. Ich liege im Bett und es ist mir egal, was gerade passiert, denn es kann nicht schlimmer werden. Wegen Daniel bin ich aus der alten Wohnung ausgezogen und jetzt bin ich in der neuen, nicht weit von dem Mann, der mir den Verstand raubt. Am besten ich wandere aus, ganz weit weg – von allem. Von diesem Mann, der, wie es scheint, mir genauso starke Gefühle entgegenbringt wie ich ihm, der eine Frau hat, die wegen uns zu zerbrechen droht. Ich kann das nicht. Niemals könnte ich es einer Frau verzeihen, wenn sie mir meinen Mann wegnehmen würde. Das Telefon klingelt erneut. Der Anrufbeantworter springt an:
„Hallo, Frau Aurelius? Hier spricht Herr Hillings. Wir können Sie nicht erreichen. Bitte melden Sie sich bei uns schnellstmöglich“, und dann legt er auf.
Zum ersten Mal seit Tagen öffne ich die Balkontüre. Die frische Luft dringt tief in mich. Ich sauge sie auf, als würde ich nach der letzten Luft schnappen, die es gibt. Es tut so gut und beinahe hätte ich das Schöne in dieser Welt vergessen. Diese seligen Momente wenn ich in den Himmel hoch schaue, die einem, wenn auch nur für ein paar Sekunden, Hoffnung schenken. Nach all diesen Tagen muss ich wieder was machen, denn so kann es nicht weitergehen. Zuerst einmal werde ich hier alles in Ordnung bringen, mir dafür aber Zeit lassen. Wenn ich diesen Mann dann immer noch nicht aus meinen Gedanken bekommen habe, dann ziehe ich ein letztes Mal um, bevor ich ständig Gefahr laufe, ihm zu begegnen. Als Erstes werde ich der Wellington-Galerie Bescheid geben. Ich werde ihnen sagen, dass ich krank gewesen sei und morgen früh die Bilder vorbeibringen werde. Heute Mittag gehe ich in die Reinigung, damit das Kapitel mit der
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