Solange die Nachtigall singt
Geschichte kannte er. Die Polizei war bei ihm gewesen. Er sagte ihnen, dass die Polizei ihnen helfen wollte, aber sie wollten trotzdem nicht gefunden werden. Sie wollten nicht zurück zu den Menschen außerhalb des Waldes. Sie wollten nicht auf die Beerdigung eines Vaters geschleift werden, der in einer Klamm gestorben war. Sie flehten den alten Mann an, nichts zu sagen. Und so sagte er nichts. Er nahm sie auf wie seine Kinder.«
»Von ihm lernten sie die Schönheit. Er zeigte sie ihnen, Blatt für Blatt, Vogelfeder für Vogelfeder. Er brachte ihnen bei, wie man Holz hackt, wie man Fallen stellt und wie man Kleider näht. Manchmal malte er. Er erlaubte ihnen, seine Farben und Leinwände zu benutzen. Wenn er ins Dorf ging, um einzukaufen, fragte er sie, ob sie ihn begleiten wollten. Sie wollten nicht, sie kamen stets nur bis zum Waldrand mit. Es gab nichts, was sie zu den anderen Menschen zurückzog. Sie hatten ihre Welt gefunden, eine Welt aus Schönheit, in der sie leben konnten und versuchen, zu vergessen.«
»Im Wald, bei dem alten Mann, waren sie zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich. Er brachte ihnen Dinge mit aus dem Dorf – Stoffe für Kleider, Wolle, um zu weben, Bücher, neue Farben. Sie wünschten sich mehr Spiegel, um die Schönheit im Haus zu vervielfältigen. Also brachte er ihnen Spiegel. Sie fingen das Licht ein, und das Haus wurde heller und heller, schöner und schöner … Drei Jahre später starb der alte Mann. Die Mädchen hatten vor Kurzem ihren elften Geburtstag gefeiert. Sie versprachen, sein Grab immer mit den weißen Blumen zu schmücken, die er am liebsten gemocht hatte. Und sie versprachen ihm noch etwas, ihm und sich selbst: Sie würden nur noch für die Schönheit leben. Sie würden versuchen, das Vorher zu vergessen. Die Schönheit war alles, was zählte.«
»Die Schönheit«, wiederholte Joana. »Die Schönheit ist alles, was zählt.«
Jari versuchte, seine Augen offen zu halten, doch er merkte, wie sie zufielen. Er wollte nicht einschlafen, er wollte nicht, dass sie glaubten, ihre Geschichte hätte ihn nicht berührt. Er wollte nachdenken über jene Geschichte …
In seinem dritten Fiebertraum begegnete er Matti. Er saß rittlings auf dem dicken Ast eines Baumes und grinste, und Jari brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es der Ast des Ahorns über dem dunklen Auge war. Er selbst stand am gegenüberliegenden Ufer des Sees im Schnee, auf hölzernen Skiern.
»Ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen!«, rief Matti. »Nämlich, dass bald Heiligabend ist! Dein Vater hat die Tischlerei gestern früher geschlossen. Wollte einen Weihnachtsbaum kaufen gehen. Traurig sah er aus, sonst hat er den Baum immer mit dir zusammen ausgesucht, hat er gesagt. Zeit, nach Hause zu kommen, Jari, meinst du nicht?«
»Das ist alles? Du bist den ganzen Weg hierhergekommen, um mir zu sagen, dass bald Weihnachten ist?«
»Ja«, sagte Matti. »Geh zurück, Jari.«
»Und wenn ich nicht gehe?«
»Dann bleibst du«, sagte Matti. »Für immer. Du verwandelst dich, hast du das nicht gemerkt? Wenn die Verwandlung perfekt ist, kannst du nicht mehr zurück.«
»Und du?«, fragte Jari. »Kannst du denn zurück? Jetzt, wo du hier bist?«
»Nein«, sagte Matti und lächelte. »Jetzt nicht mehr.«
Erst in diesem Moment sah Jari, dass etwas von dem Ast herabtropfte, etwas Rotes, es rann aus Matti heraus, wie die Zeit aus Jari rann, und Jari erinnerte sich an seinen letzten Traum von Matti. »Was – was bedeutet das alles?«, rief er, verzweifelt.
»Es bedeutet, dass das Fieber wieder gestiegen ist«, sagte eines der Mädchen. »Schsch! Halt still. Es ist nur Wasser, nur ein nasser Lappen. Das Fieber muss runter.«
Jari merkte, dass er wieder im Bett lag. Sein Körper war bleischwer, er konnte sich nicht aufsetzen.
»Ich sehe nicht gut«, flüsterte er. »Alles ist verschwommen. Und das Bild wird immer schwächer, es ist seltsam … als würde etwas enden. Ist das das Fieber?«
Dann waren da Schwärze und Hitze und eisige Kälte und die Töne eines Cellos, einer Oboe, einer Harfe. Und wieder Schwärze, und einige Jahre später, oder nur Sekunden, hörte er eine verzweifelte Stimme, gellend wie ein Schrei in einem langen, langen Tunnel und gleichzeitig nur ein Flüstern. Und er wusste, woher auch immer, dass es Jaschas Stimme war.
»Du darfst nicht sterben, Jari!«, sagte sie. »Wir brauchen dich! Dringender, als du denkst. Jari! Jari! Jari! Bleib bei uns!«
Sie sangen. »Still, still, meine
Weitere Kostenlose Bücher