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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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jetzt Joana, die vor ihm saß.
    »Wo sind die anderen beiden?«, fragte er.
    »Etwas zu essen für dich aus der Kühlkammer holen«, sagte Joana. »Nehme ich an. Es ist lange nach Mitternacht. Wir werden uns morgen um den Hasen kümmern.«
    Jari stand auf und trat ans Fenster. »Es war schrecklich«, flüsterte er. »Er … er stand einfach da und rauchte, er war auf Skiern über die Lichtung gekommen, so unbeschwert … Die Schneehose war aus Kunststoff, sie ist geschmolzen … Ich habe das Feuer mit Birkenrinde entfacht. Birkenrinde brennt auch, wenn sie feucht ist. Matti hat das gesagt …«
    »Wer ist Matti?«, fragte Joana hinter ihm. Er spürte ihre kühlen Hände unter seiner Kleidung, auf seiner Haut wie ein feuchtes Tuch, das einem jemand im Fieber auf die Stirn legt.
    »Niemand.« Jari schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der Matti heißt. Nicht mehr.«
    »Armer Jäger«, flüsterte Joana, und ihre kühlen Hände streichelten seinen Rücken. »Zu vergessen ist schwer. Die Leute sagen, es würde aus Versehen geschehen, aber das ist nicht wahr. Die Skier … Wo sind die Skier?«
    »Bei der Lichtung. Sie liegen noch dort.«
    »Es ist gut, Skier zu haben, wenn der Schnee so hoch ist«, flüsterte Joana. »Er wird noch höher werden.«
    Damit verließen ihre Hände ihn, er hörte, wie sich ihre Schritte entfernten, und drehte sich um. Vor ihm stand Jascha und sah ihn mit einem Blick an, den nur sie besaß. Einem Blick voller Wärme.
    »Ist das wahr?«, fragte sie. »Ist er wirklich tot?«
    Jari nickte, und Jascha nahm seine Hand und studierte sie gründlich. Dann zog sie ihn mit sich aus der Küche, zog ihn ins Bad.
    »Das Blut unter den Nägeln geht schwer ab«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, und drehte das heiße Wasser auf. »Das Blut des Hasen, meine ich. Vielleicht mit der Bürste und einer Menge Seife … halt still …«
    Jari sog die Luft durch die Zähne ein; das Wasser war zu heiß, und die Bürste kannte keine Rücksicht.
    »Du schrubbst mir noch die Haut ab«, sagte er.
    »Vielleicht ist das nötig«, sagte Jascha. Ihre Stimme klang erstickt.
    »Jascha?«, fragte er. »Weinst du?«
    »Ja, ich weine«, antwortete sie. »Weint man denn nicht, wenn jemand stirbt?«
    »Ihr habt doch gesagt, ihr weint nie? Weil es nichts nützt?«
    »Ich weiß nicht, wer das gesagt hat«, erwiderte Jascha. »Ich nicht. Ich tue jede Menge Dinge, die nichts nützen.«
    Als sie seine Hände endlich freigab, wollte er sie an sich ziehen, sie umarmen, ihre Tränen trocknen. Doch sie wich vor ihm zurück.
    »Fass mich nicht an«, wisperte sie. »Du riechst noch immer nach Blut. Den Geruch kann man niemals abwaschen.«
    Er folgte ihr in die Küche zurück, hilflos. Er wurde nicht schlau aus ihr, der Jüngsten, die manchmal Jahre jünger schien als ihre Schwestern. Er fand die Schale mit den Pilzen an ihrem Platz im Schrank, und die Mädchen sagten nichts, als er sie herausnahm. Es musste sein. Die Pilze würden die Dinge in die Ferne rücken, ihm helfen, zu vergessen.
    Aber die Flammen im Kamin, an dem sie später saßen, wollten nicht im Kamin bleiben, sie griffen nach Jaris Händen, blutrot und rachegierig, und auch das war die Schuld der Pilze. Erst als die Mädchen zu spielen begannen, wich das Feuer zurück, die Musik schützte Jari. Er sank ins weiche Leder des Sofas und wünschte, sie würden immer weiterspielen, bis in alle Ewigkeit, der Morgen würde nie kommen, und er würde nie mehr daran denken müssen, was geschehen war.
    »Ich hab noch dein Herz gespürt«, sang das Mädchen neben ihm auf dem Sofa – war es Jascha? Joana? Jolanda? Er wusste, dass er es herausfinden konnte, wenn er darüber nachdachte, welche Instrumente er hinter der spanischen Wand spielen hörte. Doch er hatte keine Kraft, zu denken.
    »Ich hab noch dein Herz gespürt,
    sacht, sacht.
    Und hab dir leise,
    auf meine Weise,
    ein Versprechen gemacht.
    Ich will mein ganzes Sein
    nur deiner Schönheit weih’n,
    sacht, sacht.
    Leis, leise, mein Vögelchen,
    leis, leis.
    Und wenn ein Stern fällt
    in der Nachtwelt,
    glühend und weiß,
    wünsch dir den Menschen dann,
    den es nicht geben kann,
    leis, leis.
    Ich hab noch dein Herz gespürt,
    sacht, sacht.
    Und hab dir leise,
    auf meine Weise,
    ein Versprechen gemacht.
    Ich will mein ganzes Sein
    nur deiner Schönheit weih’n,
    sacht, sacht.«
    Jari hatte die Augen geschlossen. Der Schönheit. Für die Schönheit hatte er gemordet, allein für die Schönheit. Befreite ihn das von Schuld?

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