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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Er spürte jetzt wieder Hände auf seiner Haut, drei Paar Hände diesmal. Die Instrumente schwiegen, nur die Melodie schwebte noch als Nachhall im Raum. Ihre Spielerinnen hatten sich zu einem anderen Spiel aufs Sofa zurückgezogen. Ihre Hände zogen ihn aus. Er ließ es geschehen, er fiel in ihre Umarmung wie in ein warmes Meer aus Verzeihen. Er öffnete die Augen nicht, er wusste, die Spiegel und das flackernde Licht würden ihn nur verwirren.
    Zwischendurch glaubte er wieder, nur die kalten Körper von Puppen zu spüren, blinde Blicke auf der Haut zu fühlen. Aber natürlich waren die Mädchen lebendig: warm und sehr nah und lebendig. Er weinte jetzt doch, weinte wie Jascha: nutzlos. Sie küssten die Tränen fort. Sie waren sein Anker und das Schiff, auf dem er sicher durch den Sturm segelte, sie waren der Ozean, in dem er versank, und die Schwimmerinnen, die ihn vor dem Ertrinken retteten. Sie waren alles in dieser Nacht. Alles, was ihm geblieben war.
    Jari wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er erschöpft zwischen den Decken des Sofas lag, in seinem Kopf war alles endlich weiß und leer. Wie Neuschnee. Auf der Sofalehne lag der Fuchs und sah ihn aus halb geschlossenen Augen an.
    »Du schläfst nicht«, wisperte Jari. »Gib es zu. Du hast alles gesehen.«
    »Nein, ich schlafe nicht«, antwortete der Fuchs. Nein. Es war nicht der Fuchs, der gesprochen hatte. Es war Jascha. Sie lehnte mit dem bloßen Rücken am Brennholzkorb. Jolanda und Joana waren bereits auf leisen Sohlen hinausgeglitten.
    »Ich schlafe selten«, flüsterte Jascha. »Ich kann nicht schlafen. Vergessen ist schwer. Die anderen können es besser …« Sie hob den Kopf, lauschend. Jari hörte nichts als das Prasseln der letzten Flammen.
    »Sie rufen mich«, wisperte sie und stand auf.
    »Warte«, sagte Jari müde. »Warst du denn wieder nicht dabei? Wenn nicht, wenn du nur zugesehen hast, sag mir, weshalb …« Sie war längst fort.
    Er stand vom Sofa auf und sammelte seine Kleider ein. Da lag etwas im Feuer. Etwas Flaches, Eckiges. Ein Stück Papier. Er streckte die Hand aus und griff danach, griff mit bloßen Fingern das glühende Blatt, bekam es zu fassen und zog es heraus. Der Schmerz kam erst in seinem Kopf an, als er es fallen ließ. Er hörte sich selbst aufschreien. Das Papier glühte noch immer. Jari zog ein Unterhemd aus dem Kleiderbündel und drückte es darauf, um das Feuer endgültig zu ersticken. Dann starrte er einen Moment lang seine Hand an.
    Die Spitzen seiner Finger waren rußverschmiert und völlig taub. Nur ein Idiot griff mit bloßen Händen ins Feuer. Der Idiot hob das Unterhemd hoch. Alles, was er auf dem versengten Papier entziffern konnte, war das allererste Wort. Sein Name. Es war ein weiterer Brief gewesen, ein letzter vielleicht. Aber es war zu spät, ihn zu lesen.
    Viel zu spät.

Hellglut
    Der Zug war beinahe leer. Er war in Zittau umgestiegen, die Züge davor waren voll gewesen. Erst jetzt, zwischen den leeren Sitzen, kam er wirklich zum Denken.
    Hier also, dachte er, hat auch Jari gesessen, vielleicht auf genau diesem Platz in genau diesem Zug. Er wusste, wo Jari ausgestiegen war, er wusste, in welche Richtung er losgewandert war. Er wusste, dass auf halbem Weg eine Klamm lag, die so schmal war wie ein Tunnel. Mehr wusste er nicht. Nur eines noch: Er wusste, dass er Jari finden musste.
    Etwas war geschehen. Etwas war schiefgegangen. Der Anruf, bei dem niemand etwas gesagt hatte, das war Jari gewesen, er war sich sicher, er kannte die Nummer. Er hatte Jari am anderen Ende der Leitung atmen hören, lauschen, ehe die Verbindung abbrach. Aber sie war nicht einfach abgebrochen. Das Krachen von etwas Splitterndem klang noch in seinen Ohren nach, als wäre Jari mit dem Handy in der Hand gefallen, tief, tief gefallen. Vielleicht lag er dort in der Klamm, von der er gesprochen hatte, mit einem gebrochenen Bein und wartete darauf, dass jemand kam. Aber die Berge waren einsam um diese Jahreszeit, niemand wanderte mehr dorthinauf.
    » Ich werde hinaufwandern«, sagte Matti laut. »Verlass dich drauf, Cizek.«
    Was war passiert? Wo war Jaris Mädchen geblieben – oder die Mädchen? Hatte er nicht gesagt, es wären mehrere? Zwei? Drei? Alles, was er überhaupt gesagt hatte, war so seltsam gewesen. Drei Mädchen mitten im Wald. Gestern sind wir geflogen. Über den gelben Birken, bei der Lichtung. Warum war Jari nicht zurückgekommen?
    Es gab nur einen möglichen Grund, sagte Matti sich. Er krempelte seinen Ärmel

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