Solange die Nachtigall singt
hoch, was mühsam war, er musste auch den Ärmel der gefütterten Winterjacke hochkrempeln. Das brennende Herz auf seinem Oberarm leuchtete ihm entgegen: ein Talisman. Der Dolch, der es durchstieß, war Matti nicht fremd. Es gab nur einen Grund für alles, für das Entstehen und Verderben der ganzen Welt: die Liebe.
Die Liebe war auch schuld daran, dass Matti hier im Zug saß. Er wäre nicht gefahren, wenn sie ihn nicht hätte sitzen lassen. Marianne. Gott, er war sich sicher gewesen, dass er sie heiraten würde! Sie war nicht einmal schön. Nicht wirklich. Er hätte sie trotzdem geheiratet. Sie hatte etwas so Mütterliches gehabt, etwas Fürsorgliches, ihr breiter Schoß und ihr ausladender Busen waren sanfte Ruhestätten gewesen wie Wiesen an einem lauen Bach, und er hatte sich vorgestellt, wie sie all seine Kinder bekam, eines nach dem anderen, fünf oder sechs mindestens. Er hatte ihr das mit den Ruhestätten und den Wiesen am lauen Bach sogar in einem Brief geschrieben, aber es hatte ihr nicht gefallen.
»Versuch nicht, ein Dichter zu werden, Matti«, hatte sie gesagt, schnippisch, und dass sie eine Diät anfangen würde, und er hatte es doch ganz anders gemeint.
Ob sie noch an ihn dachte? Er krempelte den Ärmel herunter, auch den Ärmel der Winterjacke, und sah aus dem Fenster. Draußen stieg das Land an, hier begann das Gebirge. Auf den kahlen Ästen der Winterbäume lag bereits Schnee. Irgendwo ganz in der Nähe war die Grenze, die Doppelgrenze zu Polen und Tschechien. Aber Matti hatte das merkwürdige Gefühl, dass in dem Wald, in den Jari an der Seite seines Mädchens hineingewandert war, noch eine andere Grenze verlief. Eine Grenze, die Jari überschritten hatte.
Der Gedanke war sehr abstrakt, und Abstraktes beunruhigte Matti. Er wollte eine Strähne seines langen, wilden Haares um seinen Finger wickeln, weil das beim Nachdenken half, doch da war kein langes wildes Haar mehr. Er seufzte. Natürlich, er hatte es schneiden lassen, es war erst fünf Tage her. Er hatte gedacht, wenn er sein Haar schneiden ließe, würde Marianne vielleicht zu ihm zurückkommen und einsehen, dass sie ihn heiraten musste. Es hatte nicht funktioniert.
»In der Liebe«, sagte er zu dem leeren Sitz ihm gegenüber, »wird dein Herz immer verbrannt und erdolcht. Ich habe das auch zu Jari gesagt. Er hat weggeguckt und gedacht, ich sehe nicht, dass er über mich lacht. Aber was ist mit Jaris Liebe passiert?«
Die Tafel über ihm zeigte in elektronischen Punktbuchstaben den nächsten Ort an, Mattis Ziel. Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. Er war der Einzige, der ausstieg. Niemand stieg ein. Schnee bedeckte den Bahnsteig, es schneite hier oben früher als unten im Tal. Mattis Fußspuren waren die einzigen. Der Bahnsteig erschien Matti wie das Ende der Welt.
Er hatte niemandem gesagt, dass er losfuhr, um Jari zu suchen. Nicht einmal seinem Vater. Nicht einmal Jaris Eltern. Es war besser, nichts zu sagen, wenn man nicht wusste, ob gelang, was man vorhatte. Er wollte zurückkommen, zusammen mit Jari, und bei Jaris Eltern klingeln und sagen: »Ich glaube, ich habe etwas gefunden, was Ihnen gehört.« Und Jari würde ungehalten schnauben, er hörte es schon, und sie würden alle hineingehen und von dem Stollen essen, den Jaris Mutter im Wohnzimmer auf einer Spitzenserviette angerichtet hatte. Matti hatte ihren Stollen immer gemocht, und sie hatte sich immer gefreut, wenn er ihn gelobt hatte. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn seine eigene Mutter noch gelebt hätte, vielleicht wäre ihm Stollen dann egal gewesen, vielleicht hätte er Spitzendeckchen gehasst, so wie Jari.
Er durchquerte die winzige Bahnhofshalle und zündete sich auf den Stufen davor eine Zigarette an.
»Hey, Cizek«, sagte er und sah die Straße entlang. »Ich komme, hörst du? Ich komme und hole dich nach Hause, an den Tisch mit dem verflixten Weihnachtsstollen.«
»Cizek«, wiederholte jemand neben ihm, und er fuhr herum.
Dort saß, in sich zusammengekauert in einer Ecke zwischen zwei Mülltonnen, ein sehr großer Mann, auf dessen abgewetzter Jacke sich der Schnee gesammelt hatte. Er sah aus, als säße er schon seit Tagen dort, ohne sich zu rühren. Jetzt stand er auf, schüttelte sich und gestikulierte mit den riesigen, groben Händen, als wollte er Matti etwas zeigen. Sein Haar war verklebt von Dreck, seine Kleidung schmuddelig. Über seine rechte Wange lief eine lange Schramme, und er hatte ein blaues Auge, als wäre er erst kürzlich in eine
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