Solange die Nachtigall singt
Schlägerei geraten. Die Farbe seiner Augen war seltsam wasserklar, durchzogen von weißen, blinden Schlieren wie etwas Geronnenes.
»Cizek, Zeisig!«, sagte er noch einmal. »Mein Zeisig, hat sie gesagt, mein armer Zeisig!«
»Wie?«, fragte Matti verwirrt. »Zu wem?«
»Ich-bin-ich-bin«, sagte der Mann. »Branko hat gehört. Ist kein Zeisig mehr jetzt. Hat Fragen gestellt, zu viele Fragen. Branko viel Angst … Jetzt Ich-bin-ich-bin was andres geworden. Vögelchen fliegt nicht mehr. Du? Wer bist du?«
»Ich bin Matti«, antwortete Matti, »und ich bin hier, um einen zu suchen, der jedenfalls auch Cizek heißt. Aber wer bist du?«
»Branko«, sagte der große Mann ernst, nervös seine groben Finger faltend und wieder entfaltend. »Frag alle, frag Leute. Branko, der Mörder.«
Er holte die Skier am nächsten Tag. Joana hatte recht, es war gut, Skier zu haben. Tronke nützten die Skier nichts mehr. Beim Frühstück hatten die Mädchen ihn mit etwas Neuem im Blick angesehen, etwas wie Ehrfurcht, etwas wie Zärtlichkeit, etwas wie: Du bist einer von uns, nun bist du es ganz. Willkommen.
»Es wird also nur Loipen geben im Wald«, flüsterte Joana, als sie ihm half, in seine Jacke zu schlüpfen.
»Keine Straße«, fügte Jolanda hinzu, die hinter ihr stand, in der Hand eine Schüssel. Als Jari genauer hinsah, erkannte er darin den gehäuteten Hasen. »Keine überfahrenen Tiere, keine toten Bäume. Du hast den Tod aus dem Wald gejagt, Jäger.«
»Ich bin der Tod«, murmelte Jari, aber er murmelte es so leise, dass er es selbst kaum hörte. Er zog die Stiefel an und senkte den Kopf, um die Schüssel mit dem rotfeuchten Fleisch des abgezogenen Hasen nicht mehr sehen zu müssen. Er schulterte das Gewehr. »Nur für alle Fälle«, sagte er.
Sie nickten, alle drei. Sie standen aufgereiht in ihrer gewöhnlichen Symmetrie, selbst Jolanda hatte die Schüssel auf einer Kommode abgestellt, sie ließen sich durch nichts unterscheiden in ihren nachtvioletten Wollkleidern. Der Stoff war voller silberner Muster, als bedeckte ihn Raureif. Zum ersten Mal fragte Jari sich, weshalb die Mädchen stets die gleiche Kleidung trugen, wenn er sie zusammen sah. Es war, als sorgten sie mit Absicht dafür, dass er sie niemals unterscheiden konnte.
Er legte den breiten Schal um, den eine von ihnen ihm reichte. Er war neu, dunkelgrün gleich den Stiefeln, bedeckt mit dem glitzernden Raureif dreier Sticknadeln wie die Kleider der Schwestern. Wir sind eins im Frost, dachte Jari und fand gleich darauf, dass dies ein unsinniger Satz war. Sein Kopf brauchte dringend Ruhe. Da draußen, im Schneewald, würde er sie finden.
Er spürte schon von ferne, dass jemand an dem Ort war, an dem er Tronkes Leiche sich selbst überlassen hatte. Er näherte sich der Stelle langsam, verwünschte den Schnee, der unter seinen Schuhen knirschte, und duckte sich schließlich tief in einen der nahen Sträucher. Von der Stelle, wo er das Feuer entfacht hatte, drang der Atem mehrerer Lebewesen. Sie sprachen nicht, atmeten nur, schwer, keuchend, und er sah durch die Zweige, wie sich etwas dort bewegte.
Als Jari sich langsam aufrichtete, erkannte er sie. Es war eine Gruppe Wölfe. Sie standen jetzt still, die Köpfe witternd erhoben, sie hatten ihn bemerkt. Es waren drei. Er wusste noch, wie erleichtert er über den Gedanken gewesen war, dass die Tiere des Waldes ihm helfen würden, den Körper des Försters loszuwerden. Doch auf einmal konnte er die Vorstellung nicht mehr ertragen. Er sprang aus seinem Gebüsch und rannte brüllend durch den Schnee auf die Wölfe zu, mit dem Gewehr herumfuchtelnd wie ein Irrer.
Die Wölfe duckten sich, zogen die grauen Köpfe ein und flohen in Sekunden. Als Jari schwer atmend neben der zerwühlten Erde am Rand der Lichtung ankam, waren sie schon außer Sichtweite. Sie waren schreckhafter, als er gedacht hatte. Beinahe empfand er Mitleid mit ihnen, der Winter würde kalt werden und sie würden hungern, einige von ihnen würden sterben – doch gleichzeitig hasste er sie für das, was sie getan hatten.
Vor ihm lagen die zerfetzten Überreste eines Menschen mit einem Beruf, einer Identität, einem Namen: Gunther Tronke. Die Wölfe hatten die halb geschmolzenen Stücke seiner Hose und Jacke zerrissen und das angesengte, violettschwarze Fleisch freigelegt, hatten die in der Hitze seltsam geschrumpften und verrenkten Gliedmaßen vom Rumpf abgetrennt und mit ihren Zähnen an einigen Stellen den Knochen freigelegt. Sie hatten begonnen,
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