Solange die Nachtigall singt
die Eingeweide aus Tronkes Bauch zu zerren und auf dem Schnee zu verteilen, meterweise Darm und Stücke von Organen, die Jari nicht mehr erkennen konnte. Es war, als saugten sich seine Augen an jeder Einzelheit fest: ein Stück honiggelbes Fettgewebe. Eine Pfütze erbsgrünen Darminhalts. Ein Strang vanilleweißer Sehne, der erdbeerrote Fetzen eines zerbissenen Hodens.
Der Ski, mit dem Jari versucht hatte zu graben, lag jetzt unter dem Körper, unter dem Chaos aus Eingeweiden. Jari griff in die teils kohleschwarze, teils fleischrosa Masse, zog ihn heraus und zerrte ihn auf die Lichtung. Dann ließ er sich auf die Knie fallen und übergab sich; sein Magen zog sich immer wieder krampfartig zusammen, bis er sicher war, dass nichts mehr darin sein konnte, und dennoch spuckte er weiter, spuckte bittere Galle. Schließlich wusch er sich den Mund mit Schnee aus, um die brennende Bitterkeit loszuwerden, und stand auf. Es war wichtig, wieder aufzustehen.
Weiterzuatmen. Weiterzugehen. Weiterzumachen.
Er begann, frenetisch mit beiden Händen Schnee über das unterbrochene Festmahl der Wölfe zu schaufeln, ohne hinzusehen. Am Ende trat er den Berg fest, obwohl er wusste, dass es nichts helfen würde. Sie würden Tronke wieder ausgraben, sobald Jari fort war.
Er suchte die Skistöcke, legte die Skier parallel in die Mitte der Lichtung und war erleichtert darüber, dass die alten Schnallen sich auch um seine Stiefel schließen ließen. Einen Moment lang hatte er befürchtet, er würde Tronke wieder ausgraben und ihm die Stiefel ausziehen müssen, falls überhaupt noch etwas von ihnen übrig war. Aber die Lederschnallen vereinten sich mit den grünen Lederstiefeln des Jägers, als wären sie für ihn gemacht.
Er war noch nie Ski gefahren. Es hatte so leicht ausgesehen! Wie Fliegen. Tronke hätte ihm zeigen können, wie man es machte. Schließlich schaffte Jari es; die Skier begannen zu gleiten, langsam, aber stetig. Er würde es lernen, er konnte alles lernen, er konnte … Etwas in der Mitte der Lichtung ließ ihn innehalten, ein Farbklecks, nein, mehrere: Er stemmte die Skistöcke in den Boden, um seine Fahrt zu bremsen, und lag einen Moment später im Schnee.
»Der Cizek ist immer noch ein Idiot, was?«, zischte er ärgerlich.
Dann löste er die Schnallen von den Stiefeln, befreite sich aus den Skibindungen und hob einen der Farbtupfer auf: Es waren winzige Samenkapseln, die ihm in leuchtendem Rosa und Orange entgegenleuchteten. Die Früchte des Pfaffenhütchenstrauches, die in ihrer Vierteilung tatsächlich kleinen roséfarbenen Bischofsmützen glichen. Die Köpfe darunter hatten die Farbe frischer Glut. Köpfe von Pfaffen, dachte Jari, die sich schämten. Vielleicht ihres makaberen Gottes wegen, der seine Geschöpfe so zerbrechlich gemacht hatte, dass eine Gewehrkugel sie zu einem sinnlosen Haufen hässlicher Eingeweide reduzierte.
Die Pfaffenhütchen lagen auf kleinen Haufen im Schnee, in regelmäßigen Abständen; jemand hatte sie sorgsam dort verteilt. Jari stand wieder auf und sah sich das Muster genauer an. Erst hielt er es für einen Kreis, einen großen Kreis mit etwa zwei Meter Durchmesser. Doch die Form war zu unregelmäßig. Es war ein Herz. Keine Fußspur führte von ihm weg oder zu ihm hin, obwohl jemand die Pfaffenhütchen nach dem letzten Neuschnee auf der Lichtung angeordnet haben musste, denn die Fruchtkapseln waren nicht von Schnee bedeckt. Jemand hatte seine Spuren sorgsam verwischt.
In der Mitte des Herzens lag etwas. Jari trat hinein und streckte die Hand danach aus: Es war ein Stück Birkenrinde. Ins Weiß der Rinde waren Buchstaben geritzt. ICH LIEBE DICH, JARI. Er schüttelte den Kopf. Matti hatte solche Sätze in Parkbänke geritzt, als sie jünger gewesen waren.
Doch hier gab es mehr Worte: ABER ICH … Die Buchstaben waren ungelenk, beinahe unleserlich. ABER ICH WEIS NICHT, OB ICH DICH RETEN KAN. ICH VERSUCH ES. VERBREN DIE RINDE.
Jari fand Tronkes Streichholzschachtel in seiner Tasche, zündete eine Ecke der Rinde an und hielt sie fest, bis sie beinahe ganz verbrannt war – dann ließ er sie fallen. Die Brandblasen, die er dem Brief im Kamin verdankte, reichten aus.
Der Briefeschreiber, dachte Jari, hatte nie Fehler in der Rechtschreibung gemacht. Dies hier war der Brief eines Kindes. Ein rosa Herz im weißen Schnee: der kitschige Liebesbeweis eines kleinen Mädchens. Er stellte sich vor, wie diese Kleine mit einem Springseil in der Hand durch den Schnee hopste, ihre Zöpfe auf und ab
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