Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
wippend, gehalten von einem violetten Seidenband … Ihre Liebe war völlig unschuldig, eine Liebe, die weder Spiegel noch breite Betten brauchte.
    Er schnallte die Skier wieder an die Stiefel und floh. Er war der dritte Jäger, er war der Tod. Das Kind, das das Herz gelegt hatte, durfte ihn nicht finden – wo immer es war.
    Die nächsten Tage verbrachte Jari damit, das Skifahren zu lernen. Er lernte es, indem er durch den Wald fuhr, kreuz und quer, und nur anhielt, wenn er wirklich nicht mehr konnte. Die Bewegung und die nachfolgende Erschöpfung lenkten ihn ab. Manchmal schoss er einen Vogel oder einen Hasen. Wenn er abends müde in die Küche taumelte, ging er zuerst zu dem Schrank, in dem die getrockneten Pilze lagen. Die Abende verbrachte er vor dem Kaminfeuer, eingehüllt in Musik, und die Nächte in dem Zimmer mit den bestickten Kissen.
    Und dann erwachte er eines Nachts nach Langem wieder vom Weinen des Kindes.
    Das Kind.
    Er sah das Herz im Schnee vor sich, die rosa- und orangefarbenen Pfaffenhütchen. Er zog sich an, entzündete eine Kerze und trat hinaus auf den Flur. Das Weinen erschien ihm verzweifelter als je zuvor. Und zum ersten Mal hatte Jari das Gefühl, auf eine verworrene Weise schuld zu sein am Unglück des unauffindbaren Kindes. Er wusste, dass er es nicht finden würde, auch wenn er alle Schlüssel aus der Kommode nahm und alle Türen öffnete. Vielleicht konnte er es nicht mehr finden, nicht mehr, nachdem er Tronke erschossen hatte.
    Er floh vor dem Weinen, floh die Treppe zum Dachgeschoss hinauf, in den nächstbesten Raum. Es war das Kabinett der ausgestopften Nachtigallen. Als er die Tür wieder hinter sich schloss, blieb das Weinen des Kindes hinter ihm zurück. Er setzte sich auf den Stuhl am Fenster, legte den Kopf aufs Fensterbrett und glitt zurück in den Schlaf. Und träumte unten, am Waldrand, eine große Gestalt. Die Gestalt sah zu dem Kerzenschein im Fenster hinauf. »Ich-bin-ich-bin«, murmelte sie. »Weiß nichts. Alles eins.«
    Dann fuhr ein Windstoß durch das Fenster im Dachgeschoss. Jemand musste es gekippt haben. Die Vorhänge flatterten wie mit großen, hellen Flügeln, schwangen auf die Kerze zu und wieder fort, hin und wieder zurück. Und wieder hin. Die Flamme der Kerze leckte an ihnen, ohne dass Jari es merkte, fraß sich an ihnen hinauf, griff auf die Stofftapeten über und rann in einem Regen aus Flämmchen daran entlang bis zur ersten Kommode mit den Nachtigallen. Dort schlugen die Flammen aus vor Freude über das gefundene Fressen, das Feuer schoss übermütige Funken in die Luft, knisterte und prasselte.
    Jari hob den Kopf. Zuerst verstand er nicht, was er sah: Er sah die glühenden Farben der Pfaffenhütchen im Schnee, ein grelles Orange und Rosa. Und es war warm. Der ganze Raum brannte. Nur an dem steinernen Fensterbrett, auf dem Jari geschlafen hatte, hatte das Feuer keinen Halt gefunden. Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren, es war, als wäre er selbst zu Stein geworden, kalt wie das Fensterbrett. Er sah die Nachtigallen in Flammen stehen, und dann erhob sich eine von ihnen. Die heiße Luft zog sie mit sich hinauf, ließ sie in dem Meer von Orange und Zyklam tanzen, zerriss dann plötzlich den kleinen Körper und ließ die Stücke wieder zu Boden segeln.
    Jari erwachte aus seiner Versteinerung und hechtete zur Tür. Als er sie aufriss, barst das Feuer mit ihm aus dem kleinen Raum. Er fühlte, wie die Flammen seine Haare versengten, duckte sich, rannte den Flur entlang, auf die Treppe zu, die Stufen hinunter. Er schrie, er wusste nicht, was.
    Dies, dachte er, ist das Ende.
    Unten im Haus knallten jetzt Türen. Im Flur auf dem ersten Stockwerk begegnete er einem der Mädchen. Ihre dunklen Augen waren weit vor Schreck, sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, sagte aber nichts, zeigte nur auf ihn – da sah er in einem der unzähligen Spiegel sich selbst. Sein Ärmel brannte. Als er den Arm jetzt durch die Luft schwang, plötzlich die Hitze und auch den Schmerz wahrnehmend, beschrieb er einen flammenden Kreis in der Nacht. Jari stieß an einen der ewigen Sträuße, die auf der Kommode standen, die Zweige fingen Feuer, und nun brannte auch hier unten die Stofftapete. Er hatte das Feuer mitgebracht.
    Jari warf sich auf den Boden, erstickte das Feuer an seinem Ärmel, indem er ihn auf den weichen Teppich presste, und wurde hochgerissen.
    »Komm!«, keuchte sie. »Wasser. Wasser!«
    Er rannte ihr nach, ignorierte seinen Arm, rannte, rannte … Das

Weitere Kostenlose Bücher