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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Flackern des Feuers spielte jetzt in allen Fluren, auf allen Treppen. Sie zerrte die Decken von einem Bett – war es das Bett? –, drückte ihm eine davon in die Hand, drehte alle Wasserhähne im großen Bad auf und hielt die Decken darunter. Und so begannen sie ihren Kampf gegen das Feuer, bewaffnet mit ein paar Bettdecken. Jari sah jetzt auch die anderen Mädchen, sah sie feuchte Tücher schwingen, auf die Flammen einschlagen, hin und her springen, sich in den Spiegeln vervielfältigen. Doch auch die Flammen vervielfältigten sich, und manchmal merkte Jari, dass er auf das Feuer im Spiegel einschlug. Die Nacht bestand aus zerrissenen Augenblicken, später wusste er nicht mehr genau, in welche Reihenfolge sie gehörten und ob sie wirklich waren:
    Stiebend rote Funken, ein wütendes, zerstörerisches Feuerwerk.
    Ein rußiger Arm, die Finger in ein Stück Stoff gekrallt.
    Rennende bloße Beine auf Treppenstufen.
    Ein brennendes weißes Nachthemd, zu Asche werdend, einen nackten Körper hinterlassend.
    Die Mädchen kämpften Seite an Seite mit ihm gegen das Feuer, eine von ihnen war stets dicht neben ihm, während er nicht genau wusste, wo die anderen sich befanden, aber sie waren alle da, er hörte ihre Stimmen durch das Fauchen und Knistern der Flammen. Ja, dachte er. Wir kämpfen zusammen, wir kämpfen auf derselben Seite, wir kämpfen füreinander. Wenn einer von uns aufgibt, sind alle verloren. Wir schaffen es, wenn wir zusammenhalten.
    Er sah ihre rußigen Gesichter, schwarz wie sein eigenes, das ab und an in einem der Spiegel auftauchte, ein Dämon, jedoch ein Dämon mit hellen Augen, hell und voller Furcht. Die ganze Nacht hatte etwas Dämonisches an sich, Jari erinnerte sich an ein altes Ölbild der Hölle im Schlafzimmer seiner Eltern, ein Bild, das er schon als Kind gehasst hatte: von Feuersäulen und schreiend aufgerissenen Mündern, von durchspießten Leibern und schmerzverzerrten Gesichtern, und irgendwo im Feuer versteckten sich jetzt diese Bilderfetzen, es war, als wären die Figuren direkt aus seiner halb vergessenen Kindheit in diese Feuernacht gesprungen, um ihn zu verhöhnen.
    Er rutschte auf einem nassen, schmierigen Flurteppich aus: Das Wasser strömte noch immer aus den aufgedrehten Hähnen im Bad. Es würde so lange weiterströmen, bis der Tank leer war. Die Flammen kamen nicht über den nassen Boden.
    Und auf einmal, mitten im Chaos, fiel Jari das Kind ein.
    Er sah, dass eine der Zimmertüren weit offen stand: die Tür zum Schlafzimmer mit dem breiten Bett. Er hechtete hinein, fand niemanden, öffnete die angelehnte Seitentür und stand in der Nähstube. Eine weitere Seitentür führte ihn in den nächsten Raum, und weiter, weiter, und schließlich betrat er das allerletzte Zimmer. Am Fenster stand eine kleine Gestalt in Stiefeln und Pelzmantel. Sie sah hinaus.
    »Hallo?«, fragte Jari leise, unsicher. »Bist du … bist du es, die nachts weint? Hast du das Herz im Schnee für mich gelegt?«
    Das Kind antwortete nicht. Es stand ganz still in der Dunkelheit, die Hände in einem Muff verborgen, die Kapuze des Pelzmantels tief ins Gesicht gezogen. Das Fenster stand offen, und irgendwo in der Ferne, kaum vernehmbar, hörte Jari das Lied einer Nachtigall.
    »Solange die Nachtigall singt …«, murmelte er und streckte einen Arm nach dem Kind aus. Doch in diesem Moment wurde die Tür zum Flur aufgerissen, und eine waagerechte Stichflamme schwappte wie eine sich überschlagende Welle in den Raum: Nichts, dachte Jari, was es wirklich geben konnte. Die unmögliche Flamme griff nach dem Mädchen, hob es hoch und wirbelte es durch die Luft wie verbranntes Papier. Wie die ausgestopfte Nachtigall im Dachgeschoss.
    Einen Augenblick lang hing das Kind in der Luft vor Jari, in orange- und rosafarbene Hitzewolken gehüllt, die Haarspitzen seines Pelzmantels glühten wie eine gemalte Linie. Dann wirbelte der heiße Feuerwind die kleine Gestalt durchs offene Fenster hinaus, warf sie in die Mondnacht wie einen brennenden Ball und schleuderte sie hinab in die Tiefe. Jari stürzte zum Fenster, ohne darüber nachzudenken, ob der Raum nun brannte oder nicht. Er war mit einem Satz auf dem Fensterbrett und sprang.
    »Jari?«
    Er sah auf, er kniete noch immer im Schnee.
    Vor ihm stand eines der Mädchen, nicht nackt, nicht rußverschmiert, sondern vollkommen angekleidet. Nur ihr schwarzes Haar war zerzaust wie nach einem Kampf.
    Als er zum Haus zurücksah, winkte der wilde rote Wein mit freundlichen Blättern und

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