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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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violetten Wollkleid und weißen Strumpfhosen voller winziger aufgenähter Seidenrosen. Sie hatte sich ein Kissen auf die oberste der drei Stufen gelegt und hielt eine dampfende Tasse in den Händen, aus der es nach Glühwein roch. Neben ihr stand eine große Keksdose mit einem Aldi-Aufdruck.
    »Bin ich hier richtig, auf dem Weg zur Sturmhöhe?«, fragte Matti. »Und zum Bärenfelsen? Dort soll irgendein Wanderweg beginnen …«
    »Wenn es dich nicht stört, dass die Sturmhöhe windstill ist und der Bärenfelsen nicht aussieht wie ein Bär, dann bist du richtig«, sagte die Frau und blies sich ein paar ihrer unzähligen grauen Löckchen aus dem Gesicht. »Wanderwege gibt es viele da oben im Wald. Wenn man allerdings zu weit hineingeht, hören sie auf. Dann gibt es nichts mehr, nur noch Bäume. Hübsche Bäume, wenn man sie malen will.« Sie nickte zu ihrem Schaufenster hin. »Aber besser, man hält sich an den Waldrand und an die Wege.«
    Matti trat vor das Schaufenster. Aus dem Augenwinkel beobachtete er den Verrückten, der auf der anderen Straßenseite herumlungerte, von einem Bein aufs andere tretend, offensichtlich auf ihn wartend. Er würde so lange hier stehen bleiben, bis der Verrückte ging.
    Im Schaufenster hingen ein paar künstlerisch kahle, sonnengebleichte Äste mit üppig verzierten roten und rosa Weihnachtsbaumkugeln. Darunter stand ein einziges, großes Bild. Es zeigte einen Wald bei Schnee, die Bäume standen so kahl nebeneinander wie die bleichen Äste, doch das Sonnenlicht brachte die eine Seite ihrer Stämme zum Leuchten. Von vorne nach hinten liefen parallele Spuren von Skiern, und ganz hinten, in den wintergoldenen Schatten, stand eine Gestalt und sah sich zum Betrachter des Bildes um, die Skistöcke in den Boden gerammt.
    Matti trat näher heran. Er kannte die Jacke und die grünen Stiefel des Skifahrers nicht. Aber er kannte sein Gesicht.
    »Jari«, flüsterte er, keuchend vor Überraschung.
    Er trat wieder zurück und ließ seinen Blick über das Bild schweifen, doch er fand nichts, keinen Hinweis darauf, was geschehen war. Denn etwas war geschehen, kurz vor dem Augenblick, den das Bild einfing, das spürte Matti. Das Bild zeigte etwas, das es eben nicht zeigte. Ein Vorher, ein Jenseits, ein Dahinter. Der Skifahrer, der Jaris Gesichtszüge trug, schien an einem Abgrund zu stehen, an einer Schlucht, dort klaffte ein Riss im Wald.
    »Kennen Sie diesen Jungen?«, fragte Matti die Frau mit den Löckchen.
    Sie steckte einen weiteren Keks in den Mund und schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf, kam die Treppe hinunter und stellte sich neben Matti, um das Bild zu betrachten. Sie setzte ihre Brille auf, trat nah an ihre eigene Schaufensterscheibe heran und schüttelte schließlich verwundert den Kopf, dass die Löckchen nur so wippten.
    »Doch«, sagte sie. »Jetzt, wo du fragst. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen. Das ist … das ist doch … das ist der Junge, der mit dem armen Lämmchen hier war! Sie bringt mir ab und zu ihre Bilder«, erklärte sie. »Das arme Mädchen, die Natur hat sie entstellt, aber ihre Bilder sind so schön wie … wie nichts anderes. Sie finden immer einen Käufer, ehe ich sie mir noch richtig ansehen kann. Den Jungen, den hat sie bei mir kennengelernt.« Sie gluckste vergnügt in sich hinein. »Ich hab ihm gesagt, er soll ihr helfen, ihre dumme alte Kiepe tragen. Beim nächsten Mal sind sie zu zweit gekommen. Letztes Mal war sie alleine, aber schau, da hat sie mir doch wirklich ein Bild gebracht, auf dem er zu sehen ist. Wenn das mal nichts bedeutet! Keks?«
    »Nein danke. Wie sieht sie aus?«, fragte Matti.
    Die Galeristin schüttelte den Kopf, traurig beinahe. »Kläglich. Bedauernswert. Hat einen Buckel. Und unterschiedlich lange Beine. Ein schiefes Lächeln. Aber ihr Herz ist rein und gut, da bin ich mir sicher, so ein armes Lämmchen …« Sie warf einen Blick zu dem Verrückten hinüber, der noch immer auf der anderen Straßenseite stand, an die Mauer gelehnt jetzt, die Hände in den Taschen. Wo er stand, hatten die Schatten das gleiche Gold wie auf dem Bild um Jaris Gestalt. Matti schüttelte sich – seit wann achtete er auf die Farbe von Schatten?
    »Er scheint mir zu folgen«, sagte er.
    »Na, dem würde ich lieber aus dem Weg gehen«, meinte die Galeristin. »Ich weiß noch, wie er damals mit blutverschmierten Händen aus dem Wald kam, der da drüben … Natürlich konnte ihm nie jemand etwas beweisen. In der Zeitung stand, der eine Entführer hätte

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