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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ließ Schneekristalle von ihnen herabrieseln wie Märchentaler. Jari atmete die kalte Luft des frühen Morgens tief ein. Über dem Wald zeigte sich der erste Streifen Morgenlicht in zaghaftem Rosa und Orange.
    »Jari?«
    »Ja«, sagte er und musste husten. Da war noch immer der Rauch des Feuers in seinen Lungen, auch wenn das Feuer selbst auf unerklärliche Weise verschwunden zu sein schien.
    »Du siehst … furchtbar aus«, sagte sie, kniete sich neben ihn und lächelte ihn an. Er blickte an sich hinab. Sie hatte recht; seine Kleider waren zerrissen, verkohlt, sein Haar, in das er probeweise griff, schien stellenweise angesengt zu sein. Er trug keine Schuhe, für Schuhe war keine Zeit gewesen. Der Schnee war angenehm kühl unter seinen bloßen Füßen.
    »Das … das Kind«, wisperte er hilflos. »Schau, das Kind!« Er wies vor sich in den Schnee. »Das Feuer war überall … Es war … es war wie … in der Hölle … Ich konnte nicht mehr tun … Das Kind ist … eine Welle aus Feuer hat es aus dem Fenster getragen … Ich habe es schweben sehen, fliegen, fallen … Ich wollte es festhalten, aber …«
    Er verstummte und drehte die verbrannte kleine Gestalt vor sich um.
    »Jari«, flüsterte sie. »Jari, es ist kein Kind. Siehst du es denn nicht? Schau, es hat keine Augen. Keinen Mund, keine Nase. Nur biegbare Gliedmaßen und einen Torso aus Stoff. Es ist eine der Schneiderpuppen!«
    Und da sah er es. Aber noch glaubte er es nicht ganz.
    »Aber es hat geweint«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es war ein Kind.«
    »Es ist alles gut«, sagte sie. »Wir haben das Feuer gelöscht. Wir haben es geschafft.«
    »Alle gemeinsam«, murmelte Jari.
    »Ja. Komm, es ist kalt.«
    »Komm – wohin? Was ist denn übrig vom Inneren des Hauses?«
    »Alles«, antwortete sie. »Bis auf ein paar ausgestopfte Vögel, ein paar Streifen Tapete und eine Handvoll Vorhänge. Einige der Spiegel sind geschwärzt. Wir werden eine Menge zu putzen haben, aber das ist unwichtig.«
    »Ich habe so viel mehr brennen sehen …«
    »Das dachte ich mir. Und mehr Farben, nicht wahr? Das ist das Gift in den Pilzen, Jari.«
    »Du findest, ich sollte damit aufhören. Aber ohne das Gift kann ich nicht vergessen, keine Sekunde lang. Besser ein paar mehr Farben, ein paar mehr Flammen …«
    Er stand auf, und sie legte eine Hand auf seinen Arm. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen und konnte nicht.
    »Welche von ihnen bist du?«, fragte Jari unvermittelt.
    Sie sah weg. »Joana. Gehen wir hinein.«
    »Komisch«, murmelte er. »Ich hätte schwören können, die bist du nicht.«
    Auf dem Tisch in der Küche standen zwei ausgestopfte Nachtigallen auf ihren Sockeln. Ihre Federn waren versengt wie Jaris Haar.
    »Das sind die einzigen«, sagte Jolanda ernst, »die wir retten konnten. Nur zwei.«
    »Nicht drei?«, fragte Jari, beinahe spöttisch.
    Jolanda streichelte das graue Gefieder und zuckte die Schultern. »Wirst du wieder mit den Skiern hinausfahren heute, mein Jäger?«
    »Soll ich nicht bleiben? Euch helfen, zu putzen?«
    Sie schüttelten die Köpfe, alle drei zugleich.
    »Der Jäger muss hinaus in den Wald«, sagte Joana. »Muss gefährliche Riesenhasen schießen.«
    Er half Jolanda, den Wassertank wieder vollzupumpen, ehe er ging. Ließ sich von Joana unter die Dusche ziehen. Ließ sich von Jascha Kleider und ein Stück Brot geben.
    Und dann ging er. Und wünschte später, er wäre nicht gegangen. Aber sie hatten bereits gesehen, was er nicht gesehen hatte. Sie nötigten ihn, zu gehen. Sie wussten, was er im Wald finden würde.

Schattengold
    Der Verrückte folgte Matti die schmale, gewundene Straße hinauf, die aus dem Dorf hinausführte; er ließ ihn nicht mehr aus den Augen, und sein geronnener Blick wurde Matti zunehmend unangenehm. Zuerst hatte er gedacht, der Mann könnte ihm etwas sagen, er wüsste wirklich etwas über Jari. Aber was er sagte, war zusammenhanglos, lose zusammengezimmerte Stücke von Sätzen, Bruchteile von Gedanken, zufällig aneinandergereihte Worte, und Matti war sich inzwischen sicher, dass er nichts wusste. Er wollte nur mit jemandem sprechen, sich interessant machen. Niemand, dachte er, ist gerne allein. Doch Matti konnte ihm nicht helfen. Er war nicht hier, um seine soziale Ader auszuleben. Er hatte ein Ziel.
    Vielleicht blieb er nur bei der kleinen Galerie stehen, damit der Verrückte endlich wegging. Auf der schmalen Treppe neben dem einen großen Schaufenster saß eine dicke Frau in einem

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