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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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den anderen erschossen. Aber dabei war natürlich niemand. Und ich bitte dich, welcher normale Mensch trägt Leichen aus dem Wald, einfach so, ganz allein, statt jemanden zu Hilfe zu holen? Nein, lass dich lieber nicht ein mit dem dort. Keks?«
    Matti schüttelte den Kopf. »Bitte? Welche Entführer?«, fragte Matti.
    Die Galeristin sah in Richtung des großen, einfältigen Mannes und klatschte ein paarmal in die Hände, wie um einen streunenden Hund zu vertreiben. Der Verrückte zuckte zusammen und wich ein paar Schritte zurück.
    »Oh, das war eine große Geschichte damals. Drei kleine Mädchen und irgendwas mit Politik, ihr Vater war Botschafter … Sie haben sie zwei Jahre lang an verschiedenen Orten festgehalten. Haben sich dann mit dem Vater getroffen, hier oben im Wald. Bei der Klamm. Es ging irgendwie schief … und dann kam er dort ins Dorf getaumelt, von Kopf bis Fuß voll Blut.« Sie schüttelte sich. »Ksch!«, rief sie dann über die Straße. »Branko! Verschwinde!«
    Diesmal hob sie die Hand, als wollte sie etwas nach ihm werfen, obgleich ihre Hand leer war. Der Verrückte jedoch duckte sich und rannte davon wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz. Er rannte die Straße hinauf, gebückt, gehetzt. Matti sah ihm nach.
    »Ich werde auch dort entlanggehen«, murmelte er. »Die Klamm suchen. Er hat gesagt, auf halbem Weg ist eine Klamm.«
    »Auf halbem Weg?«, fragte die Galeristin und nahm wieder auf dem Kissen Platz, das ihre Treppe schmückte. »Auf halbem Weg wohin? Es gibt nichts dort im Wald. Früher gab es ein Haus, da wohnte einer drin, der war so alt wie eigensinnig. Hat die Straße zuwachsen lassen. Der ist längst tot, seit Jahren, zu Staub verfallen. Das Haus ist jetzt sicher nicht mehr als eine Ruine. Such dir einen anderen Wanderweg.«
    »Aber …«
    »Sie beginnen alle auf der Sturmhöhe«, sagte die Galeristin und trank ihren Glühwein aus. »Keks?«
    Die Skier trugen Jari bis an den Rand der Schlucht, und dort standen sie. Das Erste, was er von ihnen sah, war das grelle Orange ihrer Warnwesten, unsinnig hier im Wald. Er dachte wieder an die Pfaffenhütchen. Er dachte auch an die Flammen, die die Nachtigallen gefressen hatten. Er stemmte die Skistöcke in den Schnee, stützte sich darauf und beobachtete sie durch die Äste eines Baumes. Ungefähr zweihundert Meter trennten ihn von der Schlucht. Und von den Männern. Es waren nur zwei. Ihre Westen brannten in seinen Augen wie Zielscheiben.
    Sie hatten Tronke also nie wirklich gebraucht. Sie hatten auf ihn gewartet, er war nicht erschienen, und nun waren sie ohne ihn in den Wald gekommen.
    Die Landvermesser.
    Die Straße würde auch so gebaut werden, auch ohne einen Förster, der die Landvermesser führte und beriet. Natürlich. Irgendwo musste es Karten vom Wald geben. Sie hatten vielleicht ein GPS, sie hatten einen Kompass. Niemand war verloren im Nebelwald, niemand, der sich nicht von seinem Mangel an Realität einlullen ließ und die Übersicht über Traum und Wirklichkeit verlor.
    Aber die Landvermesser waren Menschen, dachte Jari. Wie er. Sie würden Angst haben, wenn die Nebel kamen und die Wölfe heulten. Spätestens heute Abend würden sie ihre Sachen packen und nie wiederkommen.
    Und wenn sie Tronkes Leiche fanden? Ihre Überreste?
    Dann fliehen sie erst recht, dachte er, nehmen die Beine in die Hand und laufen. Ich brauche nichts zu tun. Nur zu warten.
    Er wartete. Er beobachtete sie, wie sie durch ihre Messgeräte sahen, wie sie Zahlen notierten. Sie arbeiteten sich am Rand der Schlucht entlang vorwärts, und Jari glitt neben ihnen durch den Wald, lautlos und unsichtbar, in seinen dunklen Stiefeln und der braunen Jacke. Er näherte sich ihnen langsam. Wenn der eine von ihnen durch sein Messgerät blickte, kniff er stets ein Auge zusammen, konzentriert, als peilte er über Kimme und Korn ein Ziel an.
    Die Nebel waren noch fern, die Sonne hing blass über dem Wald. Und natürlich wusste Jari, dass er nicht auf die Nebel warten konnte; dass es zu gefährlich war, die Männer ihrer eigenen Angst zu überlassen. Er wusste es von Anfang an. Je sicherer er sich wurde, desto kälter wurde ihm. Alle Wärme wich aus seinem Körper, er wurde selbst zu einem Schatten, zu einem Wesen, das nichts mehr fühlt und keine menschlichen Regungen mehr kennt. Er ließ sie ihr Mittagspicknick auf einem verschneiten Felsen essen, er sah den Dampf, der aus ihrer Thermoskanne stieg. Einer von ihnen rauchte nach dem Essen. Der andere riss eine Packung

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