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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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füllten das ganze große alte Haus und machten die Nacht zu einem einzigen Klangkörper. Er kannte das Stück nicht, vielleicht erfand sie es, während sie spielte. Nie hatte er jemanden so wunderschön Cello spielen gehört.
    Aber er konnte nichts gegen die abstruse Vorstellung tun, er wäre das Cello, das sie hielt. Er war es, dem sie die Melodie entlockte, er, den ihre Finger liebkosten … Er war es, der den Bogen auf seiner Haut spürte, wenn sie über die Saiten strich, überflüssig zu sagen, an welcher Stelle. Er war der engen Jeans, die er trug, dankbar und verfluchte sie gleichzeitig.
    Wusste Jascha nicht, was sie tat, oder tat sie es mit voller Absicht?
    Schließlich riss er seinen Blick los, sah wieder ins Feuer und hörte ein leises Lachen zwischen den Tönen. Dann, endlich, stellte Jascha das Instrument beiseite. Jetzt, jetzt.
    »Komm, mein Zeisig«, sagte sie, und er stand gehorsam auf. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Das Feuer wird noch ein Weilchen brennen.«
    Er folgte ihr durch die Flure des Hauses, eine weitere Treppe hinauf, und sie öffnete die Tür zu einem Zimmer mit einem großen, breiten Bett. Das seidene Betttuch war einladend zurückgeschlagen. Jetzt.
    »Das ist das Gästezimmer«, sagte sie. »Ich hoffe, du schläfst gut darin. Es gibt ein eigenes Bad … gleich dort in der seitlichen Wand ist die Tür.«
    Er stand vor dem Bett und starrte sie an. »Jascha«, sagte er.
    »Jari«, sagte sie. Sie nahm seine Hände in ihre und hielt sie einen Moment. Dann drehte sie sich um und schloss die Tür behutsam hinter sich.
    Er ging zum Fenster hinüber und hämmerte mit der Faust auf das Fensterbrett, enttäuscht, wütend.
    »Das kannst du nicht machen!«, flüsterte er. »Das kannst du nicht tun, verstehst du? Was bist du für ein Geschöpf, vollkommen und gleichzeitig …« Er wusste nicht, was sie war. »Wozu hast du mich hergeholt? Was willst du von mir? Macht es dir Spaß, mich hinzuhalten?«
    Und dann legte er die Stirn an die kalte Fensterscheibe und fluchte lautlos. Vielleicht war es seine Schuld gewesen. Vielleicht hatte er, wieder einmal, alles falsch gemacht, vielleicht war er, wie immer, zu ungeschickt und zu schüchtern gewesen. Hatte sie darauf gewartet, dass er direkter wurde? Dass er die Initiative ergriff?
    Er streifte seine Kleider ab, löschte die Kerze, die sie dagelassen hatte, und kroch unter die Decken.
    »Morgen«, wisperte er in die Dunkelheit. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
    In dieser Nacht aber war er allein mit sich und seiner Phantasie, ganz allein. In seinem Kopf hörte er das raue Lachen der anderen Lehrlinge, am lautesten das von Matti mit dem wirren langen Haar, Matti, der in Seen sprang, Matti, mit dem er so viele Nächte vertrunken hatte.
    »Hey, Cizek!«, rief er. »Was ist los? Lass dir doch nicht von einem Mädchen auf der Nase herumtanzen! Hast du nicht zwei gesunde Hände?«
    »Halt bloß den Mund«, knurrte Jari.
    Aber einen Moment lang sehnte er sich nach Matti. Er dachte an einen seiner letzten Besuche bei ihm – Matti hatte die Tür seiner winzigen Wohnung geöffnet, nur in Unterhemd und rasch übergestreifter Jeans, ein breites Grinsen im Gesicht.
    »Komm rein, komm rein«, hörte er ihn wieder sagen.
    »Störe ich? Du bist nicht allein …«
    »Das ist nur Annelie. Wird Zeit, dass du sie kennenlernst«, hatte Matti gesagt und gelacht. »Ich kenne sie allerdings selbst erst seit vorgestern. Ich liebe sie. Alles an ihr. Wow, Jari, was für ein Mädchen … Ich liebe ihre Ohrmuscheln, ihre Zehennägel, jedes ihrer Haare …«
    Das waren eine Menge, und sie waren, wie Jari feststellte, violett gefärbt.
    Annelie saß in Mattis winziger Küche, ebenfalls in Jeans und Unterwäsche, und blies ihm auf freundliche Weise den Qualm einer Zigarette entgegen. Hinter ihr spielte der Wind mit den herabhängenden Blättern einer halb toten Graslilie. Mattis letztes Mädchen, das wusste Jari noch, hatte die Graslilie gekauft und dorthin gestellt, um etwas »Natur« in die Wohnung zu bringen, und Matti hatte offenbar seit ihrem Weggang vergessen, sie wegzuwerfen. Allerdings auch, sie zu gießen.
    Es war seltsam, wie sehr er Matti mochte, gerade dafür, dass er vergaß, Graslilien zu gießen. Die Freundschaft, die sie verband, war unerklärlich und existierte seit Kindertagen. Sie nannten es nicht Freundschaft, Freundschaft hätte so weich geklungen, und in einer Welt aus Holzbrettern und Spänen konnte man es sich nicht erlauben, weich zu wirken, ohne den

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