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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Spott der anderen auf sich zu ziehen. So sprachen sie nicht von Freundschaft, Matti und er. Sie sprachen von Bier.
    Jari sah Annelie an und grinste. Matti ist ziemlich sicher davor, Graslilien von ihr geschenkt zu bekommen, dachte er. Sie hatte einen Drachen auf die rechte Brust tätowiert, den man oben aus dem BH lugen sah. Ihr violettes Haar war beinahe so wild wie Mattis eigenes.
    Einen Moment lang malte Jari sich aus, was für ein Gesicht seine Mutter gemacht hätte, wenn er Annelie als sein eigenes Mädchen mitgebracht hätte in ihren gebügelten, gestärkten Haushalt. Er sah ihr sorgsam verborgenes Entsetzen vor sich und musste grinsen. Vielleicht sollte er Matti fragen, ob er sich Annelie einmal ausleihen konnte? Aber dann dachte er an den abschätzigen und irgendwie enttäuschten Blick seines Vaters. Der alte Tischlermeister hatte so eine milde Art, enttäuscht von seinem Sohn zu wirken, dass einem die Lust verging, ihm überhaupt unter die Augen zu kommen; mit oder ohne Mädchen. Was schwierig war, wenn man in seiner Tischlerei arbeitete und bei ihm lernte. Matti hatte es leichter …
    »Wir kaufen uns übrigens zusammen ein Motorrad, Annelie und ich«, verkündete er. »Demnächst. Irgendwann. Und fahren zu zweit darauf durch die Wüste. Oder um die Welt. Oder durch alle Wüsten um die Welt.«
    »Soso«, sagte Jari. »Und hast du wohl noch ein Bier im Kühlschrank?«
    Er merkte, dass er laut gesprochen hatte. Als wäre Matti hier. In diesem Raum, der so weit entfernt war von enttäuschten Vätern und bügelnden Müttern und Bierflaschen – von allem, was er bisher gekannt hatte. Aber da war kein Matti, da war nur er, Jari, und die Dunkelheit. Er wälzte sich auf die andere Seite.
    Ganz allein zu sein ist schrecklich, hatte Jascha gesagt. Die Kälte wird unerträglich kalt und die Dunkelheit unerträglich dunkel. Wenn du ganz allein bist, wirst du verrückt. Dann bist du verloren. Ausgeliefert. Hilflos. Dann hat dich die Nacht.
    Er wusste nicht, wie spät es war, als er jäh aus dem Schlaf hochfuhr. Es war noch immer völlig dunkel. Da war ein Geräusch. Er lag reglos unter der Decke ausgestreckt und lauschte. Etwas heulte. Klagte. Litt. Draußen in der Nacht. Er war nicht zu Hause, das Bett fühlte sich anders an. Er tastete um sich … das Bett war zu breit . Das Bett, in dem er zu Hause bei seinen Eltern schlief, war schmal und beinahe zu kurz für ihn. Er hatte darin geschlafen, seit er zehn Jahre alt war.
    Wo war er?
    Seine Hände fanden einen Nachttisch neben dem Bett, eine Kerze, Streichhölzer. Er entzündete die Flamme. Und erinnerte sich, als hätte er die Flamme in seinem Kopf entzündet. An das hässlichste Mädchen der Welt. Das schönste Mädchen der Welt. An schwarzes Haar, das zwischen den Stämmen des Waldes durch die Luft wirbelte, an erhobene Arme, schlanke, blasse Hände, laufende bloße Füße im Laub. Das Lied der Nachtigall. Die Angst einer zitternden Hand in seiner.
    Ist die Tür nie verschlossen?
    Jetzt ist sie verschlossen. Nichts kann von draußen herein.
    Jari ging barfuß zum Fenster, die Kerze in der Hand, und zog den Vorhang beiseite. Die Nacht war undurchdringlich schwarz. Er öffnete das Fenster, so leise er konnte, und zuckte zurück vor dem kalten Wind. Jetzt war das Heulen deutlicher, aber es war im Grunde kein Heulen, es war mehr ein Weinen, beinahe menschlich. Wölfe. Jascha hatte gesagt, es gäbe Wölfe hier oben im Wald. Die Menschen in den Dörfern hätten Angst vor ihnen. Er konnte die Menschen verstehen. Jedes einzelne winzige Haar auf seinen bloßen Armen stellte sich auf, während das leise Wehklagen seine Ohren füllte.
    Lag auch Jascha alleine in ihrem Bett und hörte den Wölfen zu? Waren es Wölfe? Konnte es etwas anderes sein? Ein Fuchs? Ein Vogel? Ein verletztes Reh? Er wünschte, er hätte Jascha in den Armen halten können, sie festhalten und sich an ihr festhalten. Zu zweit hätte die Kälte dort draußen ihnen nichts anhaben können. Er wusste nicht, wo sie schlief. Das Haus war zu groß. Er würde sich darin verirren und sie niemals finden.
    Das Weinen drang bis in sein Herz und riss daran.
    »Hört auf!«, rief er in die Nacht hinaus. »Hört doch auf!«
    Und zu seinem Erstaunen verstummte das Weinen tatsächlich.
    Jari lauschte angestrengt in die Nacht. Saß dort nicht auch irgendwo eine Nachtigall in den Ästen des Waldes? Jetzt, wo die Wölfe schwiegen, würde er vielleicht das schwermütige Lied des kleinen Vogels wieder hören. Er wünschte

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