Solange die Nachtigall singt
diesem Moment eine Schwäche an ihr, die er zuvor nicht gesehen hatte. Doch sie schüttelte die Schwäche ab und lächelte.
»Komm«, sagte sie, »wir machen ein Feuer. Es ist kalt. Ich wusste nicht, dass du kommst, sonst hätte ich sie gebeten, den Kamin warm zu halten …«
»Sie?«
»Natürlich«, sagte sie ernst. »Die Flammen.« Dann lachte sie. »Guck nicht so entsetzt, Cizek-Zeisig. Ich bin nicht übergeschnappt. Wenn man mit sich alleine lebt, spricht man mit beinahe allen Dingen. Wo lebst du?«
»Bei meinen Eltern«, antwortete Jari, leise, hoffend, sie würde seine Antwort nicht hören. Er war sich sicher: Sie würde ihn auslachen.
Sie lachte nicht. »Das muss schön sein«, sagte sie und seufzte. Da erinnerte er sich wieder, dass ihr Vater gestorben war. Vielleicht war es noch nicht lange her. Er würde vorsichtig sein mit dem, was er sagte.
Jascha führte ihn eine Treppe hinauf. Auf dem Weg entzündete sie Öllampen, die an den Wänden angebracht waren. In ihrem warmen gelben Licht sah Jari das Haus zuerst. Es war riesig. Ein Haus voller Treppen und Räume, voller Korridore, Zimmer und Zimmerchen, alt und erhaben, die Räume hoch und hallend. Und dennoch verströmte es eine einladende Behaglichkeit.
Jari streifte die Schuhe am Fuß der ersten Treppe ab, um den sorgfältig gebohnerten Holzboden und die weichen Teppiche nicht schmutzig zu machen. Auch an den Wänden hingen an manchen Stellen Teppiche, gewebt, gestickt oder geknüpft, mit verschlungenen Mustern wie Jaschas Mantel. Sie zog hier und da einen langen Vorhang vor einem der hölzernen Sprossenfenster zu, wenn sie vorüberkamen, um die Nacht auszuschließen. Schließlich öffnete sie die Tür zu einem weiträumigen Bad mit einer großen Wanne, entzündete auch dort eine Lampe und drehte am Schaltknopf eines kleinen Badeofens. Ein Zischen ertönte.
»Gas«, sagte Jascha. »Gewöhnlich dauert es nicht lange, bis das Wasser warm ist. Ich dachte, du willst sicher duschen nach dem langen Weg.«
Jari nickte dankbar. »Habt ihr keinen Strom?«
»Wer – wir?«, fragte sie. Und einen Moment sah sie merkwürdig misstrauisch aus.
»Du und die Flammen«, sagte er und lachte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wozu?«
Er wusste keine Antwort auf die Frage.
»Ich kümmere mich um das Feuer im Kamin«, sagte sie. »Siehst du, das Kaminzimmer ist gleich dort hinter der Schiebetür. Komm zu mir, wenn du fertig bist.«
»Duschst du nicht?«
»Gästen«, sagte Jascha lächelnd, »lasse ich gewöhnlich den Vortritt.« Sie streckte eine Hand aus und berührte sein Haar. »Und nur der Zeisig ist in den Sumpf gefallen. Er hat noch immer Schlamm im Gefieder.«
Er wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Die Nachtigall nicht«, ergänzte er dann.
Erst als er den Rucksack auf den Boden gleiten ließ, merkte er, wie schwer sein Gepäck während der letzten Stunden geworden war. Sein Rücken schmerzte, er fühlte sich so zerschlagen, als hätte er einen Dreißig-Tage-Marsch hinter sich. Er schnallte das Zelt ab, um saubere Kleider zu suchen. Das Zelt. Heute Nacht würde er es nicht brauchen. Morgen vielleicht. Morgen würde er irgendwo im Wald in diesem Zelt liegen, allein, und sich an das erinnern, was heute geschehen war.
Er zog die schmutzigen Kleider aus, stieg in die Wanne und drehte an den beiden Metallknöpfen, einem für kaltes und einem für heißes Wasser. Heiß und Kalt, Weiß und Schwarz, Gut und Böse. Das Vermischen der Gegensätze schien ihm symbolisch, er wollte darüber nachdenken, aber er war zu müde. Er wollte über so viele Dinge nachdenken. Über Jascha natürlich zuallererst.
Gästen, hatte sie gesagt, lasse ich gewöhnlich den Vortritt .
»Du bist nicht der Erste, den sie mitnimmt, Cizek«, sagte Jari zu sich selbst. »Dummer kleiner Vogel, was hast du dir eingebildet?«
Das Wasser weckte seine Lebensgeister wieder. Er fand ein Stück Seife und wusch sich den Schlamm aus den Haaren. Erst als er sich die Seife aus den Augen rieb, fiel ihm auf, dass es keinen Duschvorhang gab. Er konnte von der Wanne aus das ganze Bad überblicken, und einen erschreckenden Moment lang erschien es ihm unendlich groß. Dann begriff er, dass die ganze Wand gegenüber der Dusche aus einem einzigen Spiegel bestand. Auch neben der Wanne gab es einen mannshohen Spiegel, der sich in der Spiegelwand widerspiegelte, und so pflanzte sich das Bild der Dusche und des Fliesenbodens bis in die Unendlichkeit fort, eine Scheinwelt voller
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