Solange die Nachtigall singt
glitzernder Wassertropfen. Er sah sich selbst in der Scheinwelt stehen, den Zeisig mit dem nassen, zerzausten Gefieder. Eine Weile betrachtete er sich durch Jaschas Augen, ließ seinen – ihren – Blick über den nackten Körper in der Duschwanne wandern – und auf einmal schämte er sich, drehte die Hähne zu und wickelte sich in ein Handtuch.
Er dachte an zu Hause und an die Tischlerei und Matti mit dem wirren Haar, der neben ihm an der Werkbank gestanden hatte. Daran, wie sie zusammen in den See gesprungen waren, schon von Kindheit an. Matti hatte sich nie darum geschert, ob jemand in der Nähe war oder nicht, und er hatte selten eine Badehose griffbereit gehabt. Ein kleiner Wilder, hatte Jaris Mutter gesagt und gelächelt. Aber Jari ohne Badehose in einen See springen zu lassen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Und so war Jari stets der geblieben, der sich schämte, und Matti der, der unbeschwert in Seen sprang. Jari konnte die Mädchen in seiner Sammlung an einer Hand abzählen. Bei Matti hätten Hände und Füße nicht gereicht. Von wegen Raubtier. Was dachte Jascha über ihn?
In den Saum des Handtuchs waren winzige Blätter gestickt. Er fand das Ornament als Schnitzerei im Rahmen des Fensters wieder. Die weißen Vorhänge schienen aus dem Kerzenlicht selbst gewebt. In einer Vase auf dem Fensterbrett standen zwei einzelne Herbstzweige mit winzigen, leuchtend roten Beeren. Alles in diesem Haus, dachte Jari, ist schön, vollkommen, perfekt wie das Mädchen selbst, das darin lebt. Er trat näher an den Spiegel. Das Moosgrün seiner Augen glänzte im Kerzenlicht auf eine neue Art und Weise. War die Schönheit ansteckend?
Er stieg in eine saubere Jeans und schlüpfte in ein sauberes T-Shirt. Beinahe wünschte er, er hätte das weiße Hemd mitgenommen, das seine Mutter im Schrank, fertig gestärkt und gebügelt, für festliche Gelegenheiten aufbewahrte. Das grüne T-Shirt, bedruckt mit den Worten SPRITZIG AUTOGLAS – IMMER FÜR SIE DA erschien ihm mehr als unpassend.
Schließlich fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, um es notdürftig zu kämmen, mit den rauen, schwieligen Tischlerfingern, stopfte seine dreckigen Kleider in den Rucksack und trat hinaus in den Flur.
Die Schiebetür glitt zur Seite wie ein Windhauch. Sie war federleicht, aus mehreren Holzrahmen gefertigt, bespannt mit weißem Stoff.
Einen Moment blieb Jari stehen und nahm den Raum in sich auf wie ein Bild. Es war, als hätten sich alle Flammen und Flämmchen, die Jascha im Haus entzündet hatte, in dem hohen Kamin versammelt, dessen Feuerschein alles zu einem warmen Glühen brachte. Da war ein Sofa, bedeckt mit den Fellen von Füchsen. Vor dem Kamin lag ein weiterer behaglicher Teppich, und in jedem der sechs hohen Fenster stand eine Vase mit einem einzelnen Zweig, dessen ornamentale Form sich vor den hellen Vorhängen abzeichnete wie ein Scherenschnitt. Eine Tür führte in einen angrenzenden Raum – aber, nein, es war keine Tür. Es war nur ein weiterer Spiegel. Verwirrt schüttelte Jari den Kopf.
»Du siehst aus wie auf der Flucht«, sagte Jaschas Stimme vom Sofa her, und da erst entdeckte er sie zwischen den Fellen. Sie hatte sich umgezogen – sie trug jetzt einen Rock und einen dünnen Pullover im selben rötlichen Braunton wie das Fuchsfell, und um ihre Schultern lag ein Seidenschal, über und über bestickt mit glitzernden winzigen Mustern in den Farben des Feuers.
»Willst du den Rucksack nicht irgendwo ablegen?«
Jari nickte. Er stellte den Rucksack neben den Korb mit dem Feuerholz und wünschte, er hätte ihn verstecken können; er wirkte so fremd hier, so störend, so wenig ästhetisch. Das zusammengefaltete Plastikzelt erschien ihm plötzlich unerträglich hässlich.
Jascha stand auf und führte ihn vors Feuer, drückte ihn aufs Sofa. Sie sah ihn einen Moment lang an, lächelnd. Sie lächelt viel, dachte er – aber ihr Lächeln hielt stets etwas zurück, wie das Bild in der Galerie. Etwas war hinter diesem Lächeln geschehen, etwas, das sie nicht preisgab.
»Es ist … wunderschön hier«, flüsterte er.
»Ja«, sagte sie einfach. »Schönheit ist wichtig. Aber essen ist auch wichtig. Es ist beinahe elf. Ich gehe nachsehen, was ich in der Küche finde.«
Als sie die Schiebetür öffnete, glaubte Jari, im Bad Wasser rauschen zu hören. Einen panischen Moment lang fragte er sich, ob er vergessen hatte, die Dusche abzustellen. Aber er erinnerte sich genau. Er hatte sie abgestellt. Er musste sich das
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