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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sich so sehr, dass sie für ihn sang. Dass sie den Geruch des weißen Jasmins vor dem Küchenfenster und den Geschmack des Sommers zu ihm zurückbrachte; die Erinnerung an zu Hause. Wie weit fort zu Hause ihm schien! Er lauschte lange.
    Doch die Nachtigall sang nicht mehr.
    Die Nachtigall war verschwunden.

Nebelmilch
    Als Jari zum zweiten Mal erwachte, war es Morgen.
    Er schüttelte sich, sein Kopf war noch schwer vom Wein. Diesmal war das Geräusch, das ihn geweckt hatte, ein anderes. Es war ein regelmäßiges Geräusch, rhythmisch, etwas wie Schläge. Er setzte sich im Bett auf. Blasses Herbstlicht füllte den Raum, er konnte nicht wirklich sagen, ob es eine Farbe hatte, das Licht war wie Nebel, und als Jari zum Fenster trat und den Vorhang zurückzog, da lag auch draußen milchig weißer Nebel zwischen den Bäumen.
    Unten vor dem Haus, zwei Stockwerke tiefer, stand Jascha an einem Hauklotz und hackte Holz. Sie trug jetzt Hosen und ein T-Shirt, im Morgenlicht glaubte er, die einzelnen winzigen Härchen auf der bloßen Haut ihres Arms aufleuchten zu sehen, wenn sie mit der Axt ausholte. Die Hosen hatte sie unten umgekrempelt und oben ein Samtband durch die Gürtelschlaufen geschlungen, um sie am Rutschen zu hindern. Jari blinzelte. Es waren seine Hosen. Die schwarzen Cordhosen, mit denen er in den Schlamm gefallen war. Es war auch sein T-Shirt. Sie musste die Sachen gewaschen und getrocknet haben, am Feuer vermutlich – wie lange war sie schon auf den Beinen?
    Eine Weile stand er in den merkwürdigen Anblick seiner Kleider versunken, die ohne ihn Holz hackten, bewegt durch eine Puppenspielerin, die in ihnen steckte und ihnen Leben einhauchte. Die schönste Puppenspielerin der Welt. Selbst in den zu großen Hosen sah sie gut aus. Das lange schwarze Haar flog um ihren Kopf, wenn sie ausholte, und die Schneide der Axt glänzte wie reines Silber. Scharf. Er zuckte zusammen, als sie das nächste Holzscheit spaltete. Die Axt sauste haarscharf an ihren Fingern vorüber, ehe sie im Holz stecken blieb. Sie hob den Klotz samt Axt, schlug ihn mit erstaunlicher Kraft auf den Haublock und ließ die Hälften zur Seite hinunterfallen, wo schon eine ganze Ansammlung von kleinen Holzstücken lag. Aus irgendeinem Grund dachte er das Wort Guillotine , ein schönes Wort, schön wie das Haus und der Wald, und doch so tödlich.
    Jascha hob den Kopf, entdeckte Jari hinter dem Fenster und lachte zu ihm herauf. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Schneide der Axt, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und leckte den Zeigefinger ab. Es war Blut daran.
    »Himmel«, sagte Jari. »Du bist wahnsinnig.«
    Er trat vom Fenster zurück und stieg in seine Kleider. Dann warf er sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, um das Gewicht des Weins zu vertreiben, und rannte die Treppen hinunter. Das Haus war noch immer verwirrend, alle Flure waren voller Spiegel, aber vielleicht brauchte man die Spiegel, wenn man alleine war. Um nicht allein zu sein.
    Beinahe war er erstaunt, als er es schaffte, die Haustür zu finden, ohne sich zu verirren. Nein. Er hatte sich verirrt. Es war nicht die Tür, durch die sie gestern gekommen waren, der Flur davor sah anders aus. Eine Reihe von Stiefeln stand davor, hohe Lederstiefel in allen Rottönen des Herbstes, ihre Schäfte verziert mit winzigen Grüßen des Waldes – einem aufgestickten Blatt, einer Eichel, einer Feder. Vier Paar. Wozu brauchte Jascha so viele Stiefel? Es war eine unsinnige Frage, sagte er sich, Frauen brauchten stets eine Menge Schuhe. Nicht seine Mutter natürlich, sie besaß nur zwei Paar, eines für den Alltag und eines für besondere Gelegenheiten. Aber seine Mutter stammte aus einer Zeit, in der »wir nichts hatten«. Und wahrscheinlich stärkte und bügelte sie die Sonntagsschuhe, wenn niemand es sah.
    Von ihm aus konnte Jascha tausend Stiefelpaare besitzen, wenn sie in jedem so schön war wie in seinen alten Hosen. Irgendwo im Haus hörte Jari ein Lachen. Er blieb stehen und lauschte. Es roch nach Eiern und Speck und Kaffee. Da war es wieder, das Lachen.
    »Jascha?«, sagte er, doch niemand antwortete ihm. Er schüttelte den Kopf, öffnete die Tür und trat hinaus. Es war vielleicht einfacher, außen herum zu gehen und die Küche, aus der die Gerüche drangen, auf diese Weise zu finden.
    Die Tür war eine Hintertür. Drei Stufen führten hinab, direkt in den Wald. Zwischen moosbewachsenen, runden Steinen wuchsen späte Glockenblumen. Jari ging um die nächste Hausecke und fand dort den

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