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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Mädchen in den Armen gehalten und ihren Schlaf bewacht hatte. Ein kleines Mädchen von achtzehn Jahren, mit Namen Jascha.
    Das Leben im Wald, dachte er, besteht aus Verwandlungen. Ich bin als Tischlergeselle gekommen, ich bin ein Mörder geworden. Aber wer bin ich jetzt?
    Sie nahmen ihn nicht mit in das breite Bett, zwischen die Kissen und Spiegel und Kerzen. Wenn ich Branko erschossen hätte, dachte er, hätten sie mich mitgenommen. Sie wollen mich spüren lassen, dass ich versagt habe: kein Gehorsam – keine Belohnung. Aber wie erleichtert war er, seinen Kopf alleine auf ein einsames Kissen zu betten!
    Und dann weckte Jascha ihn, mitten in der Nacht. Sie trug eine Kerze; sie schlich in den Raum wie eine Einbrecherin, schloss die Tür lautlos hinter sich und stellte sich vor ihn hin.
    »Ich habe es getan«, flüsterte sie. »Schau, Jari. Schau her.«
    Er blinzelte die Müdigkeit fort, und es war leichter als sonst. Er hatte an diesem Tag den Weg zu den Pilzen in der Küche nicht gefunden, und er hatte den Verdacht, dass es Jascha gewesen war, die die Weingläser gefüllt hatte, denn sein Glas schien einen gewissen Bestandteil an Wasser enthalten zu haben.
    Sie stand mitten in dem kleinen Raum und hielt die Kerze hoch, und im Lichtkreis der kleinen Flamme strahlte ihr Haar hell wie das Feuer selbst. Es war weiß.
    Jari setzte sich auf, streckte die Hand aus und berührte sacht eine der hellen Strähnen.
    »Du hast dir die Haare gebleicht?«, fragte er. »Jetzt, nachts? Womit?«
    »Kleiderentfärber.« Sie lachte. »Nun wirst du mich immer erkennen. Es wird leicht sein, ich …«
    »Was wirst du ihnen erzählen?«
    »Dass es eine Laune war, aus einem Traum heraus. Ich habe geträumt, der Winter würde meine Haare in Schnee verwandeln. Sie waren schön, in meinem Traum. Ich habe es für die Schönheit getan.«
    Jari nickte. »Das ist das einzige Wort, das sie verstehen.«
    Das weiße Haar fiel auf die Schultern ihres Nachthemds, das über und über bedeckt war mit kleinen violetten Sumpfblumen und grünen Blättern. Als wäre auf dem Nachthemd schon Frühling. Jari fragte sich, ob er den Wald jemals im Frühling sehen würde. Vielleicht war er dann schon weit fort. Oder er lag längst tot im dunklen Auge.
    Jascha stellte die Kerze auf den Tisch, zog das Nachthemd über ihren Kopf und stand vollkommen nackt, nackt und vollkommen, im Schein der Kerze. Nur die Narbe am Bein warf einen Schatten auf ihre Vollkommenheit.
    »Warum …«, begann Jari.
    Sie legte den Finger an den Mund. Dann kletterte sie zu ihm ins Bett, schlüpfte unter die Decke und blies vom Bett aus die Kerze aus.
    »Tu nichts«, flüsterte sie. »Gar nichts, ja?«
    »Nein«, sagte er, ein wenig heiser. »Ich tue nichts.«
    »Ich will nur hier liegen, ganz dicht bei dir.«
    »Ja«, sagte er, immer noch heiser.
    Er bemühte sich, still zu liegen, auf dem Rücken, sich nicht zu regen, sie nicht zu berühren. Aber natürlich berührte er sie, seine ganze Seite berührte sie, er spürte ihre Haut, ihren Körper, ihre Wärme.
    »Warum bist du hier?«, fragte er. »Wenn ich nichts tun soll? Warum hast du dich ausgezogen?«
    Sie antwortete nicht.
    »Wenn wir alle zusammen waren«, fuhr er fort, »zwischen den Kissen, zwischen den Kerzen … Warum habe ich dich am Ende immer abseitsstehen sehen? Als wärst du nicht dabei gewesen?«
    »Weil ich nicht dabei war. Oder – ich war dabei, aber ich habe mich immer rechtzeitig zurückgezogen und die Dinge am Ende den anderen beiden überlassen. Du hast es nur nicht gemerkt. Das sind die Spiegel. Du könntest nicht einmal sagen, ob du mit zwei oder fünfzig oder nur mit einem einzigen Mädchen dort unten auf dem Bett gelegen hast.«
    »Aber du … erkläre mir …«
    »Es ist einfach«, wisperte sie. »Ein einfacher, altmodischer Gedanke. Joana und Jolanda finden ihn dumm. Ich will nicht mit jemandem schlafen, der mich nicht liebt. Oder den ich nicht liebe. Und da auf dem Spiegelbett, mit den anderen … den Jari, der dort war, habe ich nicht geliebt.« Sie rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellenbogen, um ihn anzusehen. Ihr weißes Haar war ein heller Fleck im Mondlicht, das durch die Wolken ins Fenster hereinsickerte. »Ich bin, technisch gesehen, Jungfrau.«
    »Technisch gesehen!« Er lachte.
    »Ja«, sagte sie. »Es ist wahr. Ich habe so ziemlich alles getan bis auf das eine. Mit den anderen Jägern und … mit dir.«
    »Und was hast du technisch gesehen jetzt vor?«
    »Das habe ich dir

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