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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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seinen Armen gespürt. Er ignorierte den Dreck und das Blut und die Frage, wer sie war und woher sie kam.
    »Hol die anderen«, sagte er, und er dachte an Emma und was sie getan hätte. Ein Bad eingelassen, das war es, was sie getan hätte. Den Schrank nach sauberen Kleidern durchsucht, die irgendwie abgeändert werden konnten, um einem kleinen Mädchen von acht oder neun Jahren zu passen. Drei kleinen Mädchen.
    »Erschrecken Sie nicht«, flüsterte das kleine Mädchen. »Sie werden uns nicht unterscheiden können.«
    »Und was ist passiert mit euch dreien?«
    Er wusste es, natürlich. Er hatte die Worte der Polizisten noch klar im Kopf.
    Sie machte sich von ihm los und sah zu Boden. »Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht. Später vielleicht. Die anderen beiden sind schlimmer verletzt als ich.«
    Er nickte. »Ich gehe die Badewanne mit warmem Wasser füllen. Geh du und hol deine Schwestern. Ich werde mich um ihre Wunden kümmern.«
    Die Sonne wärmte den Felsen, und sie lagen im Schnee, in all ihre Kleider gehüllt, ganz nah, Rücken an Bauch, Bauch an Rücken, und hielten einander fest. Er streichelte Jaschas Rücken durch den Stoff des Mantels hindurch, und sie sprach leise von Dingen. Von ihrem Vater, den sie geliebt hatte. Von dem eigensinnigen alten Herrn, dem das Haus gehört und der ihnen die Schönheit gezeigt hatte, dem Alten, dem sie alle von Zeit zu Zeit weiße Blumen brachten.
    »Jetzt denke ich manchmal, dass es seine Schuld ist, wie wir sind«, flüsterte sie. »Hätte er uns nicht mit der Schönheit vertraut gemacht, wären wir vielleicht nie so geworden.«
    »Wo ist das Grab des alten Herrn, Jascha? Ich habe es nie gesehen.«
    »Oh, es ist ganz nah«, antwortete sie. »Im Keller. Damit wir es immer besuchen können.«
    »Im … Keller?«
    »Der Keller ist ein Meer aus weißen Blumen. In Töpfen, in Trögen, in Sträußen. Du solltest es sehen. Es ist …«
    »Schön.«
    »Ja. Manchmal kann ich das Wort nicht mehr hören.«
    »Woran ist er gestorben, der Alte?«
    »Er wurde sehr krank in seinem letzten Winter. Das war drei Jahre nachdem er uns aufgenommen hatte. Wir haben ihn gepflegt. Er hat gehustet und bekam keine Luft mehr. Sein Herz war verbraucht. Wir konnten es nicht festhalten. Es hat irgendwann aufgehört zu schlagen. Solche Dinge geschehen. Leute sterben. Es muss wohl so sein. Manchmal … wünschte ich, Joana und Jolanda wären auch tot.« Sie wisperte jetzt, kaum hörbar. »Es ist schrecklich, das zu wünschen, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich wünsche es mir erst in der letzten Zeit.«
    Er streichelte weiter ihren Rücken. Er wusste nichts zu sagen. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er nicht mehr hier war. Wie er sich an sie erinnern würde, an diesen Moment. Vielleicht würden Jolanda und Joana etwas Schreckliches tun, wenn sie herausfanden, dass sie ihm zur Flucht verholfen hatte. Vielleicht würde Jascha die erste Beute des nächsten Jägers werden. Und die Nebel würden jeden Abend über ihr Grab im Wald streichen, das niemand mit Blumen schmückte.
    »Jari«, flüsterte Jascha, ihre Stimme ein wenig verwaschen. Er beugte sich über sie und sah, dass sie die Augen geschlossen hatte. »Jari, ich werde mir die Haare färben. Damit du mich erkennst. Ich … ich schlafe ein, hier mitten im Schnee, ist das nicht seltsam? Ich konnte nie schlafen, und jetzt …« Ihr Atem war ruhig und gleichmäßig geworden in seinen Armen.
    Die Sonne wärmte sein Gesicht, der Wald und die Welt lagen weit unter ihnen. Er lag ganz still, um ihren Schlaf nicht zu stören. Dicht an sie gepresst, wachte er über sie, ohne jeden erotischen Gedanken. Das, was ich für Jascha fühle, dachte er, liegt jenseits. Jenseits von Szenen hinter Schlüssellöchern, jenseits von nackter Haut und weichen Kissen. Es war seltsam, er hatte nicht gewusst, dass es etwas jenseits gab. Er hatte immer geglaubt, das Ziel, der Höhepunkt, die Erfüllung der Liebe wäre die Verschmelzung zweier Körper in maximalem Verlangen.
    Er hatte sich sehr geirrt.
    Er erklärte Jolanda und Joana, dass Branko fort war, uneinholbar, unerreichbar. Dass er ihn nicht mehr im Wald hatte finden können. Er saß am Kamin und lauschte ihrer Musik und zwang sich, seine Augen von Jaschas Cello abzuwenden. Es war vielleicht kein Zufall, dass sie ihr den Vortritt ließen. Sie verbargen sich hinter ihrer spanischen Wand und beobachteten. Und Jari spielte einen Jari, der er nicht mehr war, seitdem er auf dem singenden Felsen ein kleines

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