Solange die Nachtigall singt
gesagt«, flüsterte sie. »Ich will nur hier liegen. Gib mir Zeit.«
»Nimm sie dir«, sagte er. »Alle Minuten und Stunden, die du willst. Mein Rucksack und mein Zelt sind lange irgendwohin verschwunden. Ich besitze nichts mehr auf der Welt außer meinen Kleidern und meiner Zeit.«
Sie lachte leise, rollte sich zurück auf den Rücken und legte eine Hand auf seine Brust.
»Und deinem Herzen«, sagte sie.
»Das ist nur ein Muskelschlauch, der Blut durch meine Adern treibt. Und gehört hat es mir nie. Wirst du hier schlafen?«
»Ein Weilchen«, flüsterte sie und schloss die Augen. Ihr weißes Haar leuchtete neben ihm auf dem Laken wie die Krone einer Eiskönigin. Er spürte es an seinem Hals. Er schlief lange, lange nicht ein.
Als er am nächsten Morgen die Treppe hinunterging, hörte er die Stimmen der Mädchen in der Küche.
»… dich doch nicht stören …«, sagte die Erste.
»… wenn du es der Schönheit wegen getan hast«, sagte die Zweite.
»Dann war es vielleicht nicht nur der Schönheit wegen!«, rief die Dritte, und ihre Stimme klang so jung und so verzweifelt, dass er wusste, es war Jaschas Stimme. »Vielleicht habe ich es getan, weil ich einmal, ein einziges Mal anders sein wollte als ihr!«
»Du weißt«, sagte die erste Stimme, »dass das nicht möglich ist. Du weißt es so gut wie wir.«
»Wir sind eine Einheit«, sagte die Zweite. »Eins im Lieben und im Hassen. Hast du das vergessen? Müssen wir dich auf andere Art daran erinnern?«
Jari öffnete die Küchentür. Sie saßen auf der Eckbank und sahen ihm entgegen, alle drei: makellos, symmetrisch, identisch. Auf dem Tisch, zwischen der Kaffeekanne und den Tassen, lag der Fuchs und musterte Jari mit einem gewissen Misstrauen.
Die Mädchen schwiegen Jari aus ihren großen dunklen Augen an. Sie trugen alle die gleichen weichen, samtroten Pullover, die um ihre Körper fielen, als trügen sie im Grunde nichts.
Sie hatten alle schneeweiß gebleichtes Haar.
Zimtbraun
Der Wald war eine Falle, ein Labyrinth, Matti begriff es jetzt. Er wusste nicht, wie lange er schon darin umherirrte. Er hatte seinen Richtungssinn verloren. Selbst die Sonne schien hier nicht zu den gleichen Tageszeiten an derselben Stelle am Himmel zu stehen, die Bäume warfen ihre Schatten wie zufällig in irgendeine Richtung, und jede Orientierung war dahin. Natürlich war das nicht wahr, Matti wusste, dass es nicht an der Sonne lag. Es war seine eigene Erschöpfung, die Angst vor dem Unbekannten, die Macht der Nebel.
Wenn die Nebel kamen, das war ihm klar, war er verloren. Dann durfte er nicht weitergehen, dann musste er stillstehen und warten, bis sie sich wieder lichteten. Er hatte den Fehler gemacht, durch ihre weißen Schwaden weiterzuwandern, hatte gefühlt, wie sie nach ihm gegriffen und ihn geneckt hatten, war vor seiner eigenen Furcht davongerannt, gegen Bäume und Felsen gestoßen, panisch vorwärtsgestolpert – und das war der Punkt gewesen, an dem er zum ersten Mal völlig die Übersicht darüber verloren hatte, wohin er ging. Als die Nebel fertig mit ihm waren und ihn auf dem Boden zurückließen, hilflos ins Moos gekauert wie ein ängstlicher kleiner Junge, als nur noch die Dämmerung zwischen den Bäumen hing, hatte er nicht mehr gewusst, wo er sich befand. Wie weit entfernt von der Klamm, durch die er gegangen war. Wie hoch in den Bergen.
Seit Matti im Wald war, hatte er die Nebel dreimal herankriechen sehen. Seine Vorräte waren längst aufgebraucht, der letzte Krümel Brot, das letzte Stück Schokolade gegessen. Er schmolz den Schnee in seinen Händen, wenn er durstig war, und einmal fand er halb gefrorene Brombeeren an einem Strauch, Überreste des Sommers. Er schlief im Schnee, in seinen Schlafsack gehüllt – wenigstens hatte er einen Schlafsack mitgenommen.
Er hatte auch das Handy mitgenommen, aber noch war er nicht verzweifelt genug, um jemanden anzurufen. Noch wollte er nicht zugeben, dass er sich verirrt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er hätte sagen sollen. Wie er hätte beschreiben sollen, wo er sich befand. Im Wald. Bei den Nebeln. Im Lausitzer Gebirge. Irgendwo zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. Sehr genau war das nicht.
Der Wald war im Übrigen schön, das Labyrinth, durch das er ging, ein Gemälde. Wenn das Sonnenlicht auf den Schnee fiel, glitzerte er wie tausend Juwelen, und die weiß bestäubten Baumstämme strahlten wie blank polierte Marmorsäulen. Die bunten Federn der Singvögel in den Ästen malten
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