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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Griff war der des Kindes, das Herzen in den Schnee malt.
    Er wusste nicht, ob er gehen konnte.
    Er hatte das erste Hindernis noch nicht überwunden. Sich selbst.
    Er fragte sich, ob er öffnen sollte. Es hatte geklopft, leise, aber deutlich.
    Er hatte lange niemandem mehr seine Tür geöffnet. Es war auch lange niemand mehr gekommen, um daran zu klopfen. Er hatte dafür gesorgt. Er hatte die Straße zuwachsen lassen. Es war ohnehin nie eine richtige Straße gewesen, eher ein Sandweg, der Wald hatte es nicht schwer gehabt, ihn zurückzuerobern. Er wollte sie nicht sehen, die aus dem Dorf. Wenn er etwas von dort brauchte, konnte er hingehen. Seine Füße trugen ihn noch weit für sein Alter. Nur seine Hände zitterten manchmal, wenn er nicht damit rechnete, und er schaffte es nicht, den Faden in die Nadel einzufädeln, wenn er einen Flicken aufnähen wollte, er wurde ungeschickt dabei, die Bälge der Füchse abzuziehen.
    Irgendwann würde er Hilfe brauchen, er wusste es, aber er schob den Gedanken daran weit fort. Als Emma noch gelebt hatte, hatte sie seine Kleider geflickt, und wenn sie noch gelebt hätte, hätte sie es weiterhin getan. Oder vielleicht nicht, vielleicht hätten ihre Hände unter denselben plötzlichen Anfällen von Zitterigkeit gelitten wie seine eigenen. Manchmal wachte er auf und dachte, sie läge neben ihm. Nach so vielen Jahren. Er stellte noch immer frische Zweige in die Vasen auf den Fensterbrettern, als käme sie jeden Moment nach Hause, er hielt die Schönheit im Haus fest, die Emma so sehr gebraucht hatte.
    Auch die Füchse waren für Emma. Sie hatte Füchse geliebt. Sie hatte immer einen zähmen wollen, und er hatte ihr gesagt, dass es nicht möglich war. Jetzt besaß er ein ganzes Zimmer voller zahmer Füchse, er nannte es Emmas Zimmer, und manchmal saß er dort und dachte an sie. Sie waren zweiundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen. Im dreiundzwanzigsten Jahr hatte der Winter sie geholt. Sie war alleine hinausgefahren mit den Skiern, sie hatten sich gestritten wegen irgendeiner Belanglosigkeit, und sie war nicht zurückgekommen. Das war einer der Winter mit zu viel Schnee gewesen. Er hatte sie eine Woche später gefunden, unten in der Schlucht, wo im Sommer die Rosen wuchsen, zu Tode gestürzt oder erfroren, er wusste es nicht.
    Seitdem war er allein. Die Füchse regten sich nie, wenn er ihnen durchs Fell fuhr. Sie waren ausgestopft. Emmas Haar hatte die Farbe der Füchse gehabt. Manchmal fragte er sich, warum sie nie Kinder bekommen hatten.
    An dem Morgen, an dem es an die Tür klopfte, saß er am Küchentisch und dachte an diese Kinder; fragte sich, ob sie Emmas Fuchshaar gehabt hätten.
    Er ließ es drei Mal klopfen.
    Dann stand er auf und ging langsam zur Tür.
    Wenn es jemand vom Dorf wäre, würde er sie sofort wieder schließen. Der Letzte, der hier herausgekommen war, hatte ihm ein Angebot gemacht für das Haus.
    »Auf Dauer können Sie hier nicht bleiben«, hatte er gesagt, »nicht ganz allein, in Ihrem Alter …«
    Er hatte ihm die Tür ins Gesicht geknallt. Das war vor sechs Jahren gewesen. Dann waren da natürlich die Polizisten gewesen, in den letzten Tagen. Aber die hatten nicht geklopft, er war von selbst hinausgegangen, um sie zu treffen. Er hatte ihnen nicht helfen können. Er hatte sie auch nicht hereingebeten, trotz des Regens.
    Jetzt regnete es nicht mehr. Waren sie zurückgekommen?
    Er vergewisserte sich, dass das Gewehr im Flur an der Wand lehnte, und öffnete die Tür. Davor stand ein Mädchen, nicht älter als acht oder neun Jahre, mit wirrem schwarzem Haar. Die Kleider der Kleinen waren dreckig und an einigen Stellen verklebt von etwas bräunlich Rotem, das aussah wie getrocknetes Blut. Ihr Gesicht war zerschrammt, als wäre sie sehr lange durch den Wald gewandert und durch die Sträucher gekrochen. Doch ihre Augen waren dunkel und klar, und er sah auch durch den Dreck hindurch, wie schön sie war. Kein gewöhnliches kleines Mädchen. Ein Bild.
    »Bitte«, sagte sie, »können Sie uns helfen?«
    »Uns?«, fragte er.
    »Da sind noch zwei«, sagte das kleine Mädchen, ohne die dunklen Augen von seinen zu wenden. Sie hielt sich mit ihrem Blick an ihm fest wie an einem Rettungsring. »Meine Schwestern. Sie verstecken sich, sie sind misstrauisch. Sie haben gesagt, ich bin dumm, ich soll nicht hier klopfen, aber jemand muss doch etwas tun! Irgendwo müssen wir doch hin!«
    Er zog sie ins Haus, in die Wärme, in seine Arme. Er hatte nie etwas so Zerbrechliches in

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