Solange die Nachtigall singt
sich auf und verwandelte sich in dünne Drahtschlingen, die in seine Handgelenke schnitten. »Die Lichtung vor Tronkes Hochsitz ist ein guter Ort, um ihn zu besuchen. Vielleicht wollt ihr eines Tages dorthin gehen und Blumen auf das Kreuz aus Pilzen legen.«
»Komm«, sagte Jolanda. »Du musst dich waschen.«
»Lohnt es denn?«, fragte Jari und hörte sich lachen. »Lohnt es, sich zu waschen? Es wird doch immer wieder neues Blut geben. Wozu das alte abwaschen?«
Jolanda legte ihren Finger auf seine Lippen. »Komm.«
Der Abend war ein Rückfall. Die Pilze ließen ihn wieder unter der Decke fliegen, und er tauchte in den Trost von Kaminfeuer, Musik und bestickten Kissen, bloßer Haut und rauen Zungen. Er wusste, dass es falsch war. Er dachte Jaschas Namen. Sie saß wieder abseits am Ende. Sie sah ihn an. Ihre Augen waren traurig.
Sie kam später zu ihm, viel später, als Jari in seinem eigenen Bett lag und schlief. Seine Träume waren zerrissen von roten Schlieren und Spritzern, von Fingern, die sich auf seine Brust pressten, und Feuchtigkeit, die zwischen ihnen hervorquoll. Jascha weckte ihn aus diesen Träumen. Sie legte sich neben ihn, und er legte einen Arm um sie. Er wusste, dass sie es war, denn ihr Dasein hatte nichts Verlangendes, nichts Provozierendes, sie war nur da.
»Ist Branko wirklich tot?«, wisperte sie. »Bitte, sag mir, dass es nicht so ist!«
»Es ist nicht so«, sagte er.
»Aber was ist geschehen? Ich habe dich noch nie so verzweifelt gesehen.«
»Ich hatte einen Freund«, wisperte er. »Damals, vor unendlich langer Zeit. Ehe ich herkam. Er hat mich gefunden, Jascha. Er ist gekommen, um mich heimzuholen. Er ist jetzt dort draußen im Wald, und vielleicht lebt er nicht mehr. Ich habe … ich habe …« Er fand die richtigen Worte nicht, er suchte lange, und schließlich erzählte er ihr flüsternd alles von vorn: Von Cowboys und Indianern und Glasmurmeln erzählte er, von Bierkästen und Gesprächen in einer winzigen Küche. Und von einem, der den ganzen Weg hergekommen war, um festzustellen, dass sein Freund nicht mehr existierte.
»Es muss wunderbar sein, einen Freund zu haben«, sagte Jascha schließlich. »Einen Freund, der nur ein Freund ist und kein Bruder und der ganz anders aussieht und ganz anders ist als man selbst … Aber du existierst, Jari. Du kannst dich zurückverwandeln. Ich habe gesagt, ich bringe dich aus dem Wald, und das werde ich tun.«
»Nein«, wisperte Jari. »Jascha, ich gehe nicht. Ich habe eine Entscheidung gefällt, heute Morgen, als … auf der Treppe, als wir … ich bleibe. Ich kann dich hier nicht alleine lassen, nicht mit Joana und Jolanda. Ich bleibe bei dir, solange es geht. Solange ein Jäger bleiben kann, ehe das dunkle Auge ihn zu sich ruft.«
»Du bist verrückt«, flüsterte sie.
»Ja«, sagte er und schloss die Augen und atmete den Geruch, der nur Jascha gehörte. »Matti war auch der Meinung. Aber Matti ist so gut wie tot.«
»Jari?«, wisperte Jascha nach einer Weile.
»Was?«
»Fröhliche Weihnachten.«
»Wie bitte?«
»Heute, Jari. Heute ist Weihnachten. Jolanda und Joana mögen das Fest nicht. Aber ich habe mich immer danach gesehnt, noch einmal jemandem Fröhliche Weihnachten zu wünschen.«
»Fröhliche Weihnachten«, sagte Jari und dachte an Matti, der da draußen irgendwo im Schnee lag, vielleicht schon jetzt nicht mehr am Leben. Er dachte an seine Eltern, die allein vor ihrem Baum saßen und es vermutlich aufgegeben hatten, auf ihn zu warten. Er dachte an drei kleine, verängstigte Mädchen, die in einer Höhle unter dem schweren Körper eines Toten erwachten und beschlossen, nie wieder Weihnachten zu feiern. Das Fest der Liebe.
»Fröhliche Weihnachten«, wiederholte Jari und umarmte Jascha so fest, dass er Angst hatte, er würde ihr wehtun. Doch sie erwiderte seine Umarmung, und so schliefen sie ein.
Tiefzyklam
Es geschah ein paar Tage später.
Jari kam morgens in die Küche, in den Duft von frischem Kaffee und Brot. Sie saßen zu dritt am Tisch und sahen ihm entgegen, so, wie sie es am Weihnachtsmorgen getan hatten.
»Es ist doch seltsam«, sagte Joana und strich über die Narbe an ihrem Arm, die heute deutlich sichtbar war, weil sie die Ärmel hochgekrempelt trug. »Es ist doch seltsam, dass der Jäger behauptet hat, Branko läge in einem Grab auf einer Lichtung, unter einem Kreuz aus Fliegenpilzen – und dass man dann Branko in der Höhle findet, angebunden, aber lebendig. Ist das nicht seltsam, Jäger?«
Der
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