Solange die Nachtigall singt
und dann später, in meiner Küche … über was wir alles geredet haben … Wir konnten immer über alles reden! Über die Welt, über die Zukunft, über die Mädchen …«
»Hast du eins, Matti? Eine, die auf dich wartet?«
Matti schüttelte den Kopf. »Ich hatte ein wunderbares Mädchen zuletzt. Marianne. Ich hätte sie geheiratet, weißt du? Aber sie wollte nicht. Sie ist gegangen. Komisch, alle gehen … Du bist auch gegangen. Warum gehen denn alle?« Seine Stimme klang auf einmal so jung und verzweifelt, dass Jari an das Kind denken musste, das nachts weinte.
»Jetzt bist du es, der gehen muss«, sagte Jari. »Dreh dich nicht um nach mir. Bete, dass du den Weg findest. Und – Matti? Bist du durch die Klamm gekommen?«
Matti nickte.
»Du musst einen Weg finden, der außen herumführt, über die Hänge. Die Klamm ist vielleicht nicht mehr sicher.«
Wieder nickte Matti. Dann schüttelte er auf einmal den Kopf, stellte sich gerader hin. Trotzig.
»Nein. Ich gehe nicht ohne dich. Du schießt sowieso nicht. Nicht du, Cizek.«
»Ich schieße, Matti. Das ist das letzte Mal, dass ich es sage: Geh.«
»Nein.«
Jari zielte genau. Er zielte auf den Baumstamm, neben dem Matti stand – seine raue Rinde erinnerte ihn wieder an die Zimtstangen in der Weihnachtsdekoration seiner Mutter –, und drückte ab. Und die Kugel flog auf ihrer vorgezeichneten Bahn, berechenbar, zuverlässig und gefühllos.
Aber Matti war ein Mensch. Unzuverlässig, unberechenbar, randvoll mit Gefühlen: Unglaube, Überraschung, Entsetzen, Panik. Matti machte etwas wie einen Satz zur Seite. Zur falschen Seite.
Die Kugel traf den Baumstamm nicht.
Sie traf Mattis Brust.
Jari sah ihn zurücktaumeln, die Hände ausstrecken und in den Schnee fallen. Er selbst stand ganz still, reglos, gefroren. Nur seine Finger bewegten sich, sie sicherten das Gewehr, sie waren zuverlässig wie die Kugel. Die Finger des Jägers.
Und dann sah Jari, wie Matti sich aufrappelte, mühsam auf die Knie kam, sich an dem Baumstamm hochzog, auf den Jari hatte schießen wollen. Er hatte die Hand auf seine Brust gepresst, und zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Es war wie in Jaris Traum. Das Blut zwischen Mattis Fingern war dunkel. Er presste die Hand auf die rechte Seite. Er schien schlecht Luft zu bekommen, die Kugel musste einen Lungenflügel zerfetzt haben. Aber er lebte.
Das Blut tropfte in den Schnee und färbte ihn rot wie zuvor das Blut des Rehs.
»Matti«, sagte Jari. »Ich … das wollte ich nicht.«
Er wusste, dass er das Gewehr fallen lassen musste, zu Matti hinüberrennen, sich die Wunde ansehen. Etwas daraufpressen. Darüber nachdenken, was zu tun war. Er konnte es nicht. Er stand noch immer ganz still.
Auch Matti war still. Er starrte Jari nur an. In seinen Augen stand jetzt Angst.
»Ich wollte den Stamm treffen, um es dir zu beweisen«, flüsterte Jari. »Ich wollte …«
Matti machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen, den Blick weiter auf Jari gerichtet, die Augen unnatürlich weit. Es war, als sähe er Jari zum ersten Mal und als wäre das, was er sah, etwas in seinem Schrecken Unbegreifliches. Ich bin der Tod, dachte Jari. Ich bin der Tod.
»Du hast ja recht!«, schrie er. »Du kennst mich nicht! Der, den du kanntest, den gibt es nicht mehr! Hörst du? Es gibt keinen Tischlersohn Jari Cizek mehr! Keinen mehr, der auf einer Fensterbank gesessen und Bier getrunken hat! Keinen Freund!«
Matti drehte sich um, er versuchte zu laufen, doch er schaffte es nicht, er strauchelte und fiel, stand wieder auf, schleppte sich weiter. Sein Gang war langsam und schwankend wie der eines angeschossenen Bären. Er würde nicht weit kommen.
Als Jari die Lichtung verließ, sah er kaum, wohin er ging. Es war, als hätte sich das Blut aus Mattis Lunge in seinen Augen verfangen, brennend und salzig. Aber natürlich waren es nur dumme, nutzlose Tränen.
Jari sah keine der Schwestern an, als er an diesem Abend in die Küche kam. Er fand die Dose mit den Pilzen, griff hinein und setzte sich auf die Eckbank. Die Küche roch nach Äpfeln und frischem Kuchen. Beinahe übergab Jari sich bei dem Geruch.
Es war Jolanda, die sich neben ihn setzte und begann, sacht seinen Arm zu streicheln, er sah die Narbe unter ihrem Ohr. Er hatte nicht die Kraft, den Arm zurückzuziehen.
»Was ist geschehen?«, flüsterte sie. »Wo ist Branko?«
»Branko wird nicht zurückkommen«, antwortete Jari. Die Maserung der Tischplatte verschwamm vor seinen Augen, löste
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