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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Keinen Freund!
    Aber Jari hatte unrecht. Es gab ihn noch, den Freund. Mattis Jari. Er war irgendwo verschüttet, unter der Oberfläche des neuen Jari, der auf Menschen schoss. Der ein Mörder war. Der sich den Mädchen ausgeliefert hatte, Joana und Jolanda, den Klugen, den Schönen, den Bösen.
    Es gab seinen Jari noch, und Matti würde ihn zurückholen. Irgendwie.
    Jascha kam spät in der Nacht zu ihm, um ihm etwas zu essen zu bringen, Wasser, einen frischen Verband. Er sah sie an, sah ihr weißes Haar glänzen im Licht der Kerze, die sie trug, und lächelte.
    »Danke«, flüsterte er. »Jascha – weißt du etwas von ihm? Geht es ihm gut?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll es ihm gut gehen, allein in einem kalten Keller?«
    »Was werden wir tun?«
    »Ich denke darüber nach. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Und ich weiß es nicht. Matti, ich weiß es nicht!«
    Sie weinte in seinen Armen. Er hielt sie vorsichtig; der neue Verband, den sie um seinen Brustkorb gewickelt hatte, war schon wieder feucht von Wundflüssigkeit. Er bekam noch immer schlecht Luft. Und das Fieber ging nicht zurück. Was werden wir tun? Wir , dachte Matti, das war eine schamlose Übertreibung. Er konnte gar nichts tun, außer hier im Schuppen zu liegen in dem Versteck, das sie für ihn geschaffen hatte, in der Dunkelheit hinter den alten Möbeln und Kisten.
    Wenn Jascha ihn nicht entdeckt hätte, draußen im Wald, wäre er inzwischen nicht mehr am Leben, das war ihm klar. Er verdankte ihr alles. Aber sie war Jaris Mädchen.
    Er schob den Ärmel hoch und zeigte ihr seine Tätowierung; das flammende Herz mit dem Dolch.
    »In der Liebe«, flüsterte er, »wirst du immer verbrannt und erdolcht.«
    Sie lachte, so wie Jari gelacht hatte, sie lachte tatsächlich ähnlich.
    »Ihr passt zusammen«, sagte er. »Keiner von euch nimmt mich ernst.«
    »Doch«, widersprach sie. »Matti … erzähl mir von Marianne, die du heiraten wolltest.«
    »Ich habe dir schon von ihr erzählt. Und ich bin dabei, sie zu vergessen.«
    »Warum?«
    Er fuhr durch ihr weißbleiches Haar. Er antwortete nicht. Er hatte sich gesagt, er würde die Liebe seines Lebens finden, die Liebe, für die es sich lohnte, zu sterben. Jari hätte über dieses Vorhaben nur wieder gegrinst. »Das ist einer der Sprüche von deinem Rocker-Kalender«, hätte er gesagt. Es stimmte. Es war der Spruch auf dem Oktoberblatt gewesen.
    Die Liebe seines Lebens – Matti hatte sie gefunden. Das schönste Geschöpf der Welt. Ein unwirkliches Geschöpf, das ihn zu allem Überfluss aus dem Wald gefischt und gerettet hatte. Sie war ganz anders als alle Mädchen, die er gekannt hatte, sie war wie ein Bild. Sie besaß einen Körper, an dem alles perfekt war, doch er liebte sie nicht ihres Körpers wegen, und das war das Seltsamste. Er liebte sie wegen der Dunkelheit hinter ihren Augen und der Dunkelheit in ihrer Stimme. Er liebte sie ganz anders, als er je zuvor geliebt hatte. Er war sich jetzt sicher: All seine Mädchen waren nur Stationen auf dem Weg zu Jascha gewesen, all ihre sorglosen, hungrigen Spiele auf der alten Matratze neben dem Fernseher nichtssagend. Denn das, was er für Jascha empfand, lag jenseits.
    Aber wenn er jetzt starb – und die Chancen standen nicht schlecht –, würde sein Tod sinnlos sein. Er würde nicht für sie sterben, denn sein Tod würde ihr nichts nützen.
    »Wir schaffen es«, flüsterte er. »Wir holen ihn da raus. Wir gehen alle zusammen fort.«
    »Fort? Aus dem Wald? Ich kann nicht fortgehen.«
    »Du kannst«, sagte Matti.
    Es mochte der zweite Tag sein oder der dritte, als Jari den Korken der einzigen gefüllten Flasche nach innen drückte und an ihrem Inhalt roch. Es war Wein, eindeutig, derselbe Wein, den er so oft am Kamin getrunken hatte, zusammen mit den drei Mädchen.
    Er hielt es einen weiteren Tag lang aus – oder waren es nur ein paar weitere Stunden?
    Er war unglaublich durstig. Es gab kein Wasser im Keller, nur die Feuchtigkeit der Wände.
    Schließlich setzte er die Weinflasche an und trank einen Schluck. Einen Schluck nur, sagte er sich, jeden Tag einen Schluck, das hält dich am Leben. Aber der Geschmack des Weines war so vertraut, so tröstlich! Er trank einen zweiten Schluck, einen dritten … Der Wein glitt Jaris Kehle hinab, würzig und ein wenig bitter wie beim allerersten Schluck, den er mit Jascha getrunken hatte. Damals, als sie ihn mitgenommen hatte aus dem Dorf.
    Seltsam, schoss es ihm durch den Kopf, der einzige Gedanke, den ich

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