Solange die Nachtigall singt
des alten Herrn, frierend, und konnte nichts tun. Es gab nichts zu essen und kein Wasser im Keller. Es war kalt. Was hatten die Mädchen vor? Ihn hier unten jämmerlich verrecken zu lassen?
Manchmal stand er auf und hämmerte an eine der Türen und rief. Niemand antwortete. Manchmal hörte er ihre Stimmen dort draußen, sie unterhielten sich oder sangen, doch er verstand ihre Worte nie. Sie waren da, das war alles, was er wusste. Sie gingen dort oben ihrem Alltag nach, malten Bilder, webten Stoffe, nähten Kleider, kochten Kaffee und fuhren auf hölzernen Skiern durch den Wald.
Dachten sie manchmal an ihn, ihren Gefangenen, wenn sie sich auf dem Bett mit den bestickten Kissen liebten? Dachte Jascha an ihn? Wusste sie, wo er sich befand? Oder war auch ihr etwas zugestoßen? Dieser letzte war der schlimmste Gedanke, er quälte Jari viele Stunden lang zwischen Dösen und Wachen und ließ ihm keine Ruhe.
Vielleicht, dachte er, werde ich noch wahnsinnig in diesem Gefängnis, ehe ich verdurste, verhungere oder erfriere. Vielleicht fange ich irgendwann an, mit dem Kopf gegen die Wände anzurennen wie Branko. Die ewigen Lichter brannten ohne Unterlass. Er wünschte, er hätte sie auspusten können, um sich in die Dunkelheit zu hüllen gleich einer Decke und endlich wirklich zu schlafen. Doch er würde sie nie wieder anzünden können, er hatte keine Streichhölzer, kein Feuerzeug, nichts. Die meisten Dinge waren in den Taschen der Lammfelljacke geblieben. Und so ließ er die ewigen Lichter in der ewigen Dunkelheit brennen.
Matti hörte sie reden, draußen, vor dem Schuppen.
»Sieh es ein«, sagte das erste Mädchen. »Es ist nicht gut, wenn du in die Nähe der Kellertüren gehst. Nicht für ihn und nicht für dich. Es macht die Verzweiflung nur größer. Das ist der Grund, aus dem wir dich nicht dorthin lassen.«
»Er wird den Weg hinaus finden, wenn er betrunken ist«, sagte das zweite Mädchen.
»Wie kann er gerade dann den Weg finden?«, fragte das dritte Mädchen. »Bitte, beendet dieses Spiel. Bitte …«
»Er wird noch eine Weile dort unten bleiben«, sagte das erste Mädchen. »Es ist eine Lektion, weiter nichts. Auch eine Lektion für dich. In der Zeit, die er da unten sitzt, wirst du lernen, wieder eine von uns zu werden.«
»Wir sind eins, im Lieben und im Hassen, eine Einheit. Hast du das vergessen? Müssen wir dich auf andere Art daran erinnern?«
»Ich …«
»Ich weiß. Du wolltest etwas Eigenes sein. Aber das ist unmöglich.«
»Wenn er den Weg hinaus findet, was wird dann sein? Was werdet ihr mit ihm tun? Woher weiß ich, dass ihr ihn nicht von seinen Leiden erlöst, so wie ihr Branko erlöst habt? Dass ihr nicht hinuntergeht, wenn er schläft, mit einem weißen Tuch in der Hand, getränkt mit Äther …«
»Das weißt du«, entgegnete das zweite Mädchen, »weil du alle Ätherflaschen ausgekippt hast, kleine Verräterin. Es wird schwer sein, neue zu besorgen.«
»Komm, komm«, sagte das erste Mädchen. »Komm mit uns hinein. Die Dämmerung ist schon da, es ist Zeit für ein Feuer im Kamin. Musik. Ein behagliches Bett voller weicher Kissen. Ein Bett für drei, die eins sind.«
»Nein! Lasst mich alleine. Ich werde schlafen gehen. Ich bin müde.«
»Schau an, plötzlich ziert sie sich! Früher war es nicht so, früher bist du mit uns gekommen … Schlafen willst du? Am liebsten neben der Kellertür, was?«
Ihre Stimmen entfernten sich, und Matti verstand sie nicht mehr. Er sank zurück auf das Lager aus Wolldecken und lag eine Weile im staubigen Zwielicht des Schuppens, unter noch mehr warmen Decken und Fellen, die Jascha über ihn gebreitet hatte, damit er nicht fror in der Eiseskälte des Winters. Er dachte an Jari. Jari, den sie in einen Keller gesperrt hatten, aus dem es keinen Ausweg gab, kein Entkommen. Jari, der ihnen ausgeliefert war, ihrer Gnade und ihrem Hass.
Matti selbst konnte nicht hassen. Er hatte versucht, Jari zu hassen, als er im Wald gelegen hatte, ganz allein. Er hatte versucht, ihn dafür zu hassen, dass er auf ihn geschossen hatte. Er war sich nicht sicher, ob es wirklich ein Versehen gewesen war, vielleicht hatte er ihn treffen wollen. Aber hassen konnte er ihn nicht. Alles, was er fühlte, war ein verzweifeltes Mitleid.
Wenn er die Augen schloss, hörte er noch Jaris Stimme, hörte ihn rufen.
Der, den du kanntest, den gibt es nicht mehr! Hörst du? Es gibt keinen Tischlersohn Jari Cizek mehr! Keinen mehr, der auf einer Fensterbank gesessen und Bier getrunken hat!
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