Solange die Nachtigall singt
nie gedacht habe, ist: Wäre ich doch an diesem Tag nicht mitgegangen.
Er merkte, dass die Flasche in seiner Hand leer war. Ihm war schwindelig; er konnte sich plötzlich nur noch mühsam auf den Beinen halten und ertappte sich bei einem breiten Grinsen.
»Der Cizek«, murmelte er, »ha, der Cizek, der Idiot … Da sitzt er … steht er … besoffen in einem Kellerverlies, einer Gruft … stirbt er also besoffen … Auch nicht schlecht … Matti … hättest du das gedacht?«
Er schüttelte die Flasche, um sicherzugehen, dass sie leer war. Da hörte er etwas an ihrem Grund klingeln, als wäre ein silbernes Glöckchen im Glas verborgen. Die Türglocke in der Galerie, dachte er. Das glockenhelle Lachen, das Jascha gelacht hat, als sie noch hässlich war … Was war das am Boden der Flasche? Einige der nicht ganz so ewigen »ewigen Lichter« waren bereits erloschen. Er sah wenig. Er drehte die Flasche um, und etwas fiel heraus. Er hob es auf.
Ein Schlüssel. Ein einzelner Schlüssel ohne Band, ohne Stein, ohne Anhänger. Jari wischte ihn an seiner Hose ab, hangelte sich am Geländer mühsam die Kellertreppe hoch und versuchte, ihn ins Türschloss zu stecken. Er passte nicht. Natürlich nicht. Jari stieg die Stufen vorsichtig wieder hinunter, durchquerte den langen Raum voller Blumen und steckte den Schlüssel ins Schloss der zweiten Tür. Hier passte er. Und er ließ sich drehen.
Ungläubig starrte Jari den Schlüssel in seiner Hand an, drehte weiter, bis er ein Klicken hörte, drückte die Türklinke hinunter – und blinzelte. Das weiße Licht auf dem Schnee draußen stach in seine Augen, und er sah für Momente gar nichts.
»Das – Wahnsinn«, flüsterte er und fand, dass er klang wie Matti, was womöglich am Inhalt der Flasche lag. Ein irres Lachen stieg in seiner Kehle hoch, er musste es mit Gewalt unterdrücken. Jemand hatte einen zweiten Kellerschlüssel in eine Flasche geworfen und sie verkorkt, ein sicheres Versteck für einen Schlüssel, und er hatte ihn gefunden, Jahre später, womöglich Jahrzehnte … Was für ein wahnwitziger Zufall!
Er ließ den Schlüssel in den Schnee fallen und taumelte vorwärts, hinaus ins blendende Licht, die Hände tastend vor sich ausgestreckt wie ein Schlafwandler.
»Ich komme«, flüsterte er. »Alles ist vorüber. Ich komme nach Hause.«
Er war zu betrunken, um zu wissen, was er damit meinte. Das Leben jenseits der dunklen Kellergruft? Den Wald, der sein Zuhause geworden war? Oder die Welt außerhalb des Waldes?
Langsam gewöhnten sich Jaris Augen wieder an die Helligkeit, die Konturen der Bäume vor ihm wurden allmählich sichtbar, wie Figuren, die auf einem Film auftauchen, der in Entwicklerflüssigkeit getaucht wird. Er drehte sich um. Das Haus war das gleiche geblieben, nur dass die Wände kaum merklich schwankten.
»Es wird fallen«, flüsterte Jari. »Es … es bleibt nicht auf ewig stehen, nichts ist ewig, nicht mal die ewigen Lichter …«
Auch die Bäume schwankten. Der Himmel schaukelte. Es hatte wohl eher mit dem Zustand seines Gehirns zu tun als mit der Endlichkeit der Dinge.
Und dann sah er den Hirsch am Waldrand stehen. Auf seinem Rücken saß eine Reiterin. Sie schien einen Mantel aus reinem Licht zu tragen, gewirkt von goldenen Fäden. Jari wusste nicht, ob es ein Trugbild der Sonnenstrahlen war. Ihr weißes Haar war zu einem langen Zopf geflochten und vorn um ihre Stirn gelegt. Das Kleid unter ihrem Mantel hatte die Farbe von Mattis Blut. Jari schnappte nach Luft. Er hatte in seinem Verlies vergessen, wie unglaublich schön die drei waren.
»Da bist du, mein Singvogel«, sagte sie. »Kein Jäger mehr. Die weißen Riesenhasen spielen im Wald ohne dich. Sie sind frech geworden.«
»Joana«, sagte Jari. »Spottdrossel. Ja, da … da bin ich. Wo ist Jascha?«
Joana machte ihre Augen schmal und schien für einen Moment durch ihn hindurchzusehen.
»Sag es ihm!«, klang eine Stimme aus dem Wald, hinter ihr. Erst jetzt sah Jari, dass eine Spur von Skiern in das Winterdickicht führte. Irgendwo dort stand noch eine von ihnen.
»Sag es ihm, Joana! Er hat verdient, es zu erfahren.« Die Stimme war ernst und frei von Joanas Spott, kühl und distanziert.
»Jolanda«, murmelte Jari.
»Joana und Jolanda, Jolanda und Joana«, sagte Joana von ihrem Hirsch herab. »Keine Jascha mehr. Sie ist gegangen, Jari. Gestern Nacht.«
»Gegangen? Wohin?«
Joana lenkte den Hirsch näher an Jari heran und sah auf ihn herab, eine Königin in Gold und Rot,
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