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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Licht und Blut. »Sie hat eingesehen, dass ihr keine Chance habt. Cizek, sie hat dich geliebt.«
    »Hat?«, rief er. »Hat? Wo ist sie jetzt?«
    »Weit, weit fort«, antwortete Joana. »So weit fort wie der erste und der zweite Jäger. Alle, die lieben, gehen fort – aber bei euch war es umgekehrt. Sie ist gegangen, nicht ihr Jäger. Wir haben sie heute früh gefunden. Wir waren eins, im Lieben und im Hassen, eine Einheit. Du hast ein Stück aus der Einheit herausgerissen. Du hast mehr zustande gebracht als je einer zuvor. Nur nichts Gutes.«
    Er sah, dass eine Träne ihre blasse Wange hinablief, sah, wie sie ungeduldig mit ihrer Handschuhhand darüberwischte. Dann wendete sie den Hirsch und ritt zurück zwischen die Winterbäume.
    »Wo? Ist? Sie?«, rief Jari ein letztes Mal.
    Joana drehte sich noch einmal um, doch es war Jolanda, die antwortete, obgleich das Dickicht sie noch immer vor ihm verbarg. »Im dunklen Auge!«, rief sie. »Leb wohl, Zeisig!«
    »Ja.« Joana spuckte ihm das Wort eher entgegen, als dass sie es sprach. »Du, der du schuld bist, geh nur hinaus und lebe! Leben ist manchmal schlimmer als sterben.« Damit ließ sie den Hirsch davonpreschen, und auch Jolanda fuhr wohl auf ihren Skiern davon.
    Leb wohl, lebe wohl.
    Jari stand alleine im Schnee, mit hängenden Armen, so wie er dagestanden hatte, als Matti ihn gefunden hatte, beschmiert mit Blut und Erde. Diesmal waren seine Hände sauber. Nur die Erinnerung an Jascha klebte daran.
    Er wollte etwas schreien. »Nein!« zum Beispiel. Aber er bekam kein Wort heraus. Er wollte mit dem Gesicht in den Schnee fallen und liegen bleiben. Mit den Fäusten auf die Erde hämmern wie ein kleines Kind. Etwas zerstören. Um sich schlagen. Die Welt eintreten.
    Er ging stattdessen geradeaus, oder so geradeaus, wie er gehen konnte. Er musste es irgendwie schaffen, das dunkle Auge zu erreichen. Er trug keine Jacke, doch er spürte die Kälte nicht; in den Tagen im Keller schien er jedes Gefühl für äußere Kälte verloren zu haben. Die einzige Kälte, die er spürte, kam von innen. So musste Joana sich gefühlt haben, als sie den ersten Jäger beim dunklen Auge gefunden hatte, erhängt am Ast des Ahorns. So musste Jolanda sich gefühlt haben, als der zweite Jäger mit gebrochenem Genick auf dem Felsen gelegen hatte.
    Aber nun war es Jascha, die dort lag, kein Jäger. Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, dass alles anders wurde. Sie hatte sich von ihren Schwestern losgesagt und ihm helfen wollen. Sie hatte ihn geliebt.
    »Jascha«, flüsterte er, während er durch den Wald ging. »Jascha, ich komme. Alles ist vorüber. Ich komme nach Hause.«
    Und diesmal wusste er, was er damit meinte.

Spiegeleis
    Das dunkle Auge wartete auf Jari.
    Er stand lange an seinem Ufer und sah auf die dünne Eisschicht hinaus.
    Sie würden sich dort unten umarmen, im Wasser, tief, tief unten, wohin keine Sonnenstrahlen mehr fielen. Er würde ihr weißes Haar um seine Finger wickeln, um sie nicht zu verlieren. Gemeinsam würden sie hinabsinken in die ewige Nacht und sich nie wieder trennen. Sie würden den Wald auf ihre eigene Art verlassen. Aus dem Gefängnis der Schönheit fliehen. Eine Flucht, dachte Jari, zwischen die Zeilen, unter die Schatten, hinter die Realität.
    In der Mitte des dunklen Auges war das Eis gebrochen, dort glänzte das Wasser reinschwarz und lockte ihn. Er sah Jascha nicht. Vielleicht lag sie unter dem Eis.
    Er erinnerte sich, wie sie zusammen geschwommen waren, an einem warmen Herbsttag, genau hier – oder war das nicht Jascha gewesen?
    »Still, still, meine Nachtigall«, flüsterte er.
    Eine Strophe des Liedes fand den Weg in seinen Kopf, und er stand am Ufer und hörte sich selbst singen:
    »Leis, leis, mein Vögelchen,
    leis, leis.
    Und wenn ein Stern fällt
    in der Nachtwelt,
    glühend und weiß,
    wünsch dir den Menschen dann,
    den es nicht geben kann,
    leis, leis.«
    Er verstand die Worte jetzt, er verstand, was sie sich gewünscht hatte: einen Menschen, der sie befreite. Der sie mitnahm. Aber das Lied hatte recht, es gab keinen Menschen, der stark genug war, das zu tun. Stark genug, die unsichtbaren Seile zwischen den Schwestern zu zerreißen und eine von ihnen zu retten. Sie hatte sich in diesen unsichtbaren Seilen verheddert und keinen anderen Ausweg gewusst, als sich dem dunklen Auge anzuvertrauen: sich, ihren Körper, ihre Seele und ihre Liebe.
    Er zog die Schuhe aus, als beträte er einen heiligen Ort. Steckte die Socken in einen Schuh, ordentlich

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