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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gerollt. Er war noch immer zu betrunken, um klar zu denken, aber er wollte die Welt ordentlich verlassen, so, wie er die Tischlerei stets ordentlich verlassen hatte, sein Vater hatte es ihm zu oft eingebläut.
    Dann ging er über das Eis, barfuß. Es knirschte schon bei den ersten Schritten unter seinem Gewicht, es schien die letzten Tage über nie wirklich kalt genug gewesen zu sein, trotz des Schnees. Er brach schon ein, ehe er das Loch im Eis erreichte.
    Er holte tief Luft und tauchte. Dort unten, dort war sie, irgendwo.
    Jascha. Ich komme. Ich komme nach Hause.
    Matti ging seit einer Weile unruhig im Schuppen auf und ab. Es ging ihm besser, gut genug, um auf und ab zu gehen und sich Sorgen zu machen. Warum war sie heute Morgen nicht gekommen? Und gestern Abend nicht? Inzwischen war es beinahe Mittag. Etwas war nicht in Ordnung. Es war sehr still draußen. Er hörte die Stimmen der Mädchen nicht, es war, als läge das Haus verlassen.
    Schließlich hielt Matti es nicht mehr aus. Er öffnete die Schuppentür, sah sich um und ging über den leeren Hof. Die Haustür stand offen. Matti ignorierte den Schmerz in seiner Brust, ignorierte das Fieber, das seinen Kopf noch immer schwimmen ließ, und betrat einen Flur voller Spiegel. Einige von ihnen waren geschwärzt wie von Feuer, andere klar. Er begegnete sich selbst hundertfach, während er durchs Haus ging, es war unheimlich, so viele Mattis zu sehen. Sie sahen alle denkbar mitgenommen aus.
    Marianne hätte ihn nicht einmal mehr erkannt. Er war ein anderer geworden, nicht nur äußerlich. Er spürte es. Der Wald und Jaschas Hände hatten ihn zu einem anderen gemacht, es war, als reichten seine Gedanken jetzt tiefer als vorher, als wäre da mehr, das er fühlen und begreifen konnte.
    Er betrat eine Küche mit einem Tisch und einer behaglichen Eckbank; auch hier waren die Wände mit Spiegeln behängt. Er setzte sich probeweise in die Ecke der Eckbank, wo zwei Spiegel einander gegenseitig spiegelten, und plötzlich saß eine unendliche Zahl von Mattis neben ihm: einer links, einer rechts und Tausende dahinter. Die drei vorderen Mattis, die am wirklichsten aussahen, grinsten sich zu. Dann stand der echte Matti auf und ging weiter.
    Er ging von Raum zu Raum, ohne jemanden zu finden. Alles, was er fand, waren Zweige in Vasen, wunderschöne alte Möbel, Teppiche, Kerzenständer – und noch mehr Spiegel. Er betrat ein Zimmer mit einem offenen Kamin. Die Asche war kalt. Er ließ seinen Blick über das breite Sofa gleiten, über das Fuchsfell darauf, über das schwarze Holz der Oboe, die dort lag. Ein Cello lehnte an einer fein geschnitzten spanischen Wand aus dunklem Holz, und hinter der Wand fand Matti eine Harfe. Er ließ die Finger über ihre Saiten gleiten; sie waren so kalt wie die Asche im Kamin. Da standen auch zwei Schneiderpuppen im Schatten, gekleidet in wunderschöne glänzende Gewänder. Hatten die Mädchen hier vor dem Kamin ihre Säume umgesteckt?
    Matti strich über den raschelnden Stoff. Der Stoff war ebenfalls kalt; kalt wie die Saiten der Harfe und wie die Asche. Als hätte alles aufgehört, auf irgendeine Weise. Neben der Harfe, auf einem kleinen Tisch, lagen ein paar Notenblätter, und als Matti eines aufnehmen wollte, fiel der ganze Stapel herunter. Es waren nicht nur Notenblätter. Matti bückte sich mühsam und hob die Hülle einer alten Platte auf. Er strich mit der Hand über das polierte Holz des Kastens, auf dem die Blätter gelegen hatten. Dann fand er den Schnappmechanismus und ließ den Deckel aufspringen. Es war ein Grammofon, ein uraltes schwarzes Grammofon. Was für Musik hatten sie damit abgespielt?
    Das Haus war ein Museum. Das Haus war schön. Aber es gefiel ihm nicht.
    Er sehnte sich nach seiner Einzimmerwohnung über dem Parkplatz, nach dem schmalen Küchenfensterbrett und den Bierflaschen im Kühlschrank. Selbst nach den leeren Bierflaschen in den Kästen im Flur. Nach dem Fernseher. Der Gegensprechanlage neben der Haustür. Nach was man sich alles sehnen konnte!
    Er stieg die Treppe hinauf ins erste Stockwerk, und da hörte er das Kind weinen. Das Weinen war so verzweifelt, so untröstlich, dass der Schmerz in Mattis Brust zurückkehrte und eins wurde mit dem Schmerz des Kindes. Die Tür, hinter der das Kind weinte, war abgeschlossen. Matti sah sich um. Es gab eine Kommode im Flur, mit einer Menge Schubladen, und als er eine davon aufzog, lag ein Schlüssel darin. Er holte alle Schlüssel aus der Kommode und begann, sie

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