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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Verletzung, du kannst laufen. Zieh ihn, wenn es nötig ist. Wartet vor der Klamm, geht nicht hindurch, hört ihr?«
    »Wie kannst du so klar denken«, murmelte Jari, »wie kannst du gerade jetzt nur so klar denken?«
    »Ich habe zehn Jahre lang nicht klar gedacht«, antwortete Jascha. »Es ist wohl Zeit, damit anzufangen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Jari auf die Lippen, rasch, flüchtig, eilig, wandte sich Matti zu, küsste auch ihn, stieg auf die Skier und schlang die Schnallen um ihre bloßen Füße.
    Jari sah ihr nach, wie sie davonflog, ein weißer Körper im weißen Schnee zwischen weiß bepuderten Bäumen. Bild eines nackten Mädchens auf Skiern. Er schüttelte den Kopf.
    »Dieser Wald ist zu voll mit Bildern«, sagte er leise. »Und sie werden immer abstruser.«
    Matti nickte. »Herzlichen Glückwunsch.«
    »Wie? Weil ich nicht ertrunken bin?«
    »Das auch, von mir aus. Wir stoßen irgendwann darauf an, mit einem Bier, in meiner Wohnung. Aber das meinte ich nicht. Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung.«
    »Matti! Ich bin nicht du. Niemand hier hat vor, zu …«
    »Sie kommt mit, Jari. Trotz allem.« Er räusperte sich und fügte hinzu, etwas ungrammatikalisch, aber sehr ehrlich: »Mehr geht nicht.«
    Und dann wanderten sie los, tiefer hinein in den Wald, um dem Wald zu entkommen. Für immer.
    Matti nahm die Skier, Jari ging neben ihm her.
    Jari zwang sich, sich nicht umzudrehen.
    Sie würde kommen.
    Würde sie?

Ewigrot
    Das dritte kleine Mädchen musste seine ganze Kraft einsetzen, seinen ganzen Körper, um die Steine vor der Höhle beiseitezurollen. Es sammelte alle Federn ein und steckte sie in seine Tasche. Niemand sah es.
    Sah niemand es? Oder kauerten das erste und das zweite kleine Mädchen im Unterholz, ganz nah, zwischen den Zeilen, hinter den Schatten, unter den Worten – und beobachteten, was das dritte kleine Mädchen tat, die Verräterin? Berieten sie flüsternd darüber, wie sie es bestrafen, es einsperren, es quälen würden? Konnten sie es töten?
    Das dritte kleine Mädchen zitterte am ganzen Körper, als es die letzte Feder in seine Tasche steckte und den Knopf der Tasche schloss, einen sorgsam geschnitzten hölzernen Knopf in Form eines Efeublattes. Der Mantel des dritten kleinen Mädchens war grün und über und über bestickt mit den Formen und Geschöpfen des Waldes. Auch sein Pullover war grün, von einem dunkleren Grün als der Mantel, mit winzigen Stickereien am Ausschnitt, Mustern wie Adern in Blättern. Seine Hose war braun und aus weichem Samt, seine Stiefel aus rotem Leder. Die schwarzen Beerdigungsstiefel hatte es im Haus gelassen, zusammen mit allem anderen.
    Es schnallte die Skier an und fuhr den Hang hinunter, die Angst im Nacken.
    Das dritte kleine Mädchen.
    An diesem Tag war es achtzehn Jahre und fünf Monate alt.
    Sie waren schon lange unterwegs, Stunden, Ewigkeiten, als sie das Brechen der Äste hinter sich hörten. Sie waren beide erschöpft, sie bewegten sich zu langsam fort, sie wussten es. Und Jascha hätte längst bei ihnen sein müssen, ihnen den Weg zeigen, außen über einen der Hänge. Oder bildete Jari sich nur ein, dass so viel Zeit vergangen war, weil er so sehr auf sie wartete?
    Matti presste die Hand auf seine Brust, aber Jari sah, dass es nicht gegen die Schmerzen half. Auch Mattis Atem reichte nicht aus. Es war nur eine seiner Lungen, die atmete, Jari war sich inzwischen sicher. Und er schien noch immer zu fiebern.
    Er zwang Matti, nicht stehen zu bleiben, die Skier weiter vorwärtszuschieben. Manchmal zog er ihn ein Stück an einer Hand mit sich, während er neben ihm ging, so wie sie es als Kinder getan hatten, auf dem Eis, mit einer Plastiktüte anstelle von Skiern unter den Füßen. Sie waren immer hingefallen dabei und hatten immer gelacht. Jetzt durften sie nicht fallen; jetzt fehlte ihnen die Kraft, zu lachen.
    Aber alles war wieder da – die Freundschaft, die sie nie so genannt hatten; das unsichtbare Band, das sie trotz ihrer Verschiedenheit vereinte. Alles war so, wie es früher gewesen war, auch wenn es ein anderer Jari und ein anderer Matti waren, die sich durch den Wald schleppten, zwei andere Personen als die, die vor urewiger Zeit über die Sturmhöhe heraufgewandert waren. Jari hätte gern etwas gesagt, er hätte gern gesagt: Danke, dass du gekommen und geblieben bist. Am Leben geblieben. Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast. Danke.
    Aber da war kein Atem und keine Zeit für Worte.
    Und dann hörten sie die

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