Solange die Nachtigall singt
habe und ein paar dreckige Kleider. Gut gegen allzu rasche Verwandlungen.
»Ein Zeisig mit Hufen, ein Gaul mit Flügeln«, sagte Jascha ernst. »Wir werden sehen.«
Damit ließ sie ihn alleine, um ihrer eigenen Arbeit nachzugehen. Ab und zu tauchte sie in Jaris Gesichtsfeld auf, eine Schüssel mit Hühnerfutter im Arm, einen Bottich mit nasser Wäsche. Als sie die Weinreben an der Sonnenseite des alten Hauses hochband, hielt er inne und beobachtete sie. Er hätte nicht gedacht, dass in diesem Wald Wein wuchs. Aber vermutlich gab es nichts, was nicht wuchs unter Jaschas Händen. Die Sonnenstrahlen, die durch den Nebel drangen, ließen ihr schwarzes Haar glänzen wie Seide, sie hatte die Ärmel hochgekrempelt.
Und dann sah er die Narbe an ihrem rechten Arm. Zuerst hielt er sie für den Schatten eines Blattes, einer Rebe, eines wippenden Astes. Aber es war kein Schatten. Gerade unterhalb des Ellenbogens hatte sich die makellose blasse Haut zu einer seltsamen Unregelmäßigkeit zusammengezogen. Er schluckte. Die Narbe war nicht groß, vielleicht so lang wie das Endglied seines Zeigefingers. Aber auf merkwürdige Weise beruhigte Jari dieser Bruch der Ästhetik, dieser Riss in der Vollkommenheit. Es war, als wäre etwas vor langer Zeit tief, tief ins Fleisch ihres Arms eingedrungen, etwas, das Sehnen und Muskeln zerfetzte und unregelmäßige Ränder hinterließ … Die Zähne eines Tieres?
Es gibt Wölfe hier …
Aber war es hier geschehen, was auch immer geschehen war? Hier im Wald? Hatte Jascha denn immer hier gelebt? Oder gab es ein Davor, ein Früher, ein Damals, ein anderes Leben?
Sie band die letzte Ranke fest, drehte sich um und lächelte ihn an. Dann ging sie fort, über den Hof, ins Haus.
Als Jari mit dem Feld fertig war und den Pflug in den Schuppen gebracht hatte, spürte er jeden einzelnen Muskel. Für einen Moment lehnte er sich auf den Hackklotz, fühlte die Sonne auf seinem Gesicht und lauschte in den Wald hinaus. Ganz nahe raschelten Blätter. Die Hühner gackerten in ihrem Gehege. In dem kleinen Garten rauschte der Wind in den Apfelbäumen. Und sang da nicht jemand? Im Haus? Die Worte flogen auf leisen Flügeln durch ein offenes Fenster zu Jari hinaus, und er begriff, dass sie nicht für ihn bestimmt waren.
»Still, still, meine Nachtigall,
still, still.
Und wenn der Tag geht
und wenn der Wind weht
und wenn die Nacht kommen will,
sitz ich am alten Ort,
doch du bist nicht mehr dort,
still, still.«
Er hörte Geschirr klappern. Jascha sang, während sie in der Küche arbeitete. Ihre Stimme war weich und voller Trauer. Seine Mutter hatte auch stets in der Küche gesungen. Lieder von unglücklicher Liebe und unehelichen Kindern, von tragischen Schicksalen und von Heimweh. Sie hatte auf Tschechisch gesungen, und auch ihre Stimme war traurig gewesen, aber auf eine geliehene, unechte Art traurig, die zu den Liedern gehörte und nicht zu ihr selbst. Jaschas Trauer war echt. Worum trauerte sie? Was, dachte er, bedeuten diese seltsamen Worte? Etwas verbarg sich in ihnen, so wie in dem Bild in der Galerie. Es schien hundert Jahre her zu sein, dass er vor diesem Bild gestanden hatte. Und doch war es nur ein Tag.
»Kein Ton soll klingen mehr, kein Ton.
Und wenn die Nacht sinkt
und die Kälte bringt,
warte ich schon.
Ich seh die Wolken ziehn
und alte Schatten fliehn,
kein Ton.
Still, still, meine Nachtigall,
still, still.
Und wenn der Tag geht
und wenn der Wind weht
und wenn die Nacht kommen will,
sitz ich am alten Ort,
doch du bist lange fort,
still, still.«
Jari öffnete die Augen. Still, still. Ja, wie still es mit einem Mal war! Aus dem Wald schwebte ein schwerer, süßlicher Duft. Es war, als hätte das Lied Jaris Sinne so sehr geschärft, dass er die Melancholie selbst riechen konnte. Und da gab es noch etwas, dahinter, etwas wie den Geruch von Blut. Unsinn. Er schüttelte den Kopf und streifte vor der Tür die Erdklumpen von seinen Schuhen. Als er die Küche betrat, war niemand dort.
»Jari? Suchst du mich?«
Er fuhr herum. Er war die Treppen hinauf- und wieder hinuntergestiegen, war sich selbst in den Spiegeln begegnet, hundert Jaris, und hatte nur leere Räume vorgefunden, deren Fülle an Spiegeln noch mehr leere Räume schuf: eine leere Unendlichkeit. Am Ende war er wieder hinausgegangen in den Garten, und auch dort hatte er sie nicht gefunden. Aber jetzt stand sie hinter ihm, ihr Gesicht im Schatten eines Apfelbaumes mit tief hängenden Ästen. Sie wog einen der schweren
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