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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Ich gehöre stets anderen.
    »Ich bin … ein Wanderer«, flüsterte er. »Einer, der auf dem Weg ist. Ich bin mit dem Zug gekommen … vor langer Zeit …« Der hinter der Tür schwieg. Und schließlich gab Jari es auf und folgte der Melodie die Treppe zum Erdgeschoss hinunter.
    Er fand Jascha in der Küche. Sie saß im offenen Fenster auf dem Fensterbrett, halb draußen und halb drinnen, an ihren Lippen die Oboe, die er im Kaminzimmer gesehen hatte. Das dunkle Holz und die metallenen Klappen schimmerten im silbernen Morgenlicht, genau wie die glänzenden Fäden an den Säumen von Jaschas Rock und Bluse. An diesem Tag war ihre Kleidung von einem gläsernen Grün, das den Eindruck von Durchsichtigkeit vermittelte, ohne wirklich durchsichtig zu sein. Die Sonne beleuchtete die eine Hälfte ihres Gesichts und ließ die andere im Dunkeln, als wäre es ein sorgsam geplanter Effekt – als wäre alles wirklich nur ein Bild.
    Sie nahm die Oboe von den Lippen. Mein Gott, die Oboe an ihren Lippen, in ihrem Mund, in Kontakt mit ihrer warmen Zunge: ein weiteres Symbol, über das er besser nicht länger nachdachte.
    »Guten Morgen, mein Zeisig.« Sie sah ihn nicht an, sah hinaus in den Wald.
    Er schob ihren rechten Ärmel hoch. Keine Narbe.
    »Alles hier ist verschlossen«, murmelte er. »Die Zimmer. Du. Die Wahrheit.«
    »Die Wahrheit über was?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Über dich.«
    »Über mich.« Sie lachte. »Ich bin Jascha, ich bin so alt wie du, ich lebe hier, mein Vater ist gestorben, ich bin allein. Das ist alles.«
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist nicht alles. Gestern … Warum hast du das getan? Warum bist du weggelaufen und hast mich allein gelassen, da draußen im Nebel?«
    Sie strich mit den Fingern über die Oboe, nachdenklich. Erst jetzt merkte er, dass sie an der einen Hand einen dünnen Handschuh trug, und er fragte sich, warum.
    »Es war … so verlockend. Es war dumm. Es tut mir leid. Kannst du mir verzeihen?«
    »Ich bin nicht sicher«, sagte er ehrlich. »Gestern, als ich den Wolf gesehen habe, da habe ich beschlossen zu gehen. Gleich heute früh.«
    »Die Haustür ist offen. Geh. Ich halte dich nicht.«
    »Willst du das? Willst du, dass ich gehe?«
    Sie sah ihn noch immer nicht an. »Es ist deine Entscheidung.«
    »Wo sind die Kleider, in denen ich gekommen bin? Das Handy?«
    Jascha wies mit einer schlanken, blassen Hand hinter sich, zum Küchentisch. Da lagen sie, Jaris Kleider, in einem säuberlichen Stapel aufgeschichtet, die Hose, das T-Shirt, der Pullover. Das Handy lag obenauf, ein silbernes Rechteck, das ihn aus einer anderen Welt grüßte. Er konnte es in die Einraumwelt seines Gästezimmers einbauen, gleich jetzt, in die kleine Revolution aus Hässlichkeit, die er hier aus keinem eindeutig bestimmbaren Grund vollführte. Sie hatte nie versucht, ihm irgendetwas wegzunehmen.
    Die Morgensonne malte Jaschas Umriss als goldene Linie vor das Bild des Waldes draußen. Selbst ihr schwarzes Haar war voller unerklärlicher Lichtpunkte.
    »Ich bleibe«, sagte Jari.
    Später dachte Jari an diesen Tag als an den »Tag der Apfelernte«. Es war wichtig, die Zeit an Dingen festzumachen, die geschahen, die Zeit war wie ein Boot und schien ihm zu entgleiten, seit er den Wald betreten hatte. Die Äpfel waren rot und golden, und Jascha stand kniehoch in einem See aus sonnengelben Blumen, während sie sich nach ihnen reckte. Er wünschte, er hätte sie malen können. Er konnte nicht malen. Er konnte Äpfel pflücken. Er konnte Kisten tragen und Bäume schütteln, er konnte hart arbeiten, wenn es nötig war. Eine Weile arbeitete er mit der Melodie des Cellos im Rücken, die Arbeit ging leichter von der Hand zu seinen Klängen.
    Schließlich drehte er sich um, und da kniete Jascha hinter ihm und sammelte Falläpfel in ihren Rocksaum. Hatte sie nicht eben noch im Haus Cello gespielt? Er lauschte. Nein, das Cello war verstummt.
    Sie sah zu ihm auf und lächelte. »Was hast du, mein Zeisig?«
    »Nichts … nichts.« Er schüttelte den Kopf. Sie war zurückgekommen, um zu helfen, das war alles. Es waren nur ein paar Schritte.
    Sie pressten den Großteil der Äpfel in einer klobigen altmodischen Presse, die von Hand gekurbelt werden musste. Jari bediente die Kurbel. Er sah die Äpfel bersten, ihre Schale platzen; sah, wie sie zermalmt wurden und schließlich nicht mehr existierten. Alles, was blieb, war ihr langsam tropfender Saft, er füllte Gefäß um Gefäß wie goldenes Blut. Als Jascha

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