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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schloss, sah er ihre Hände auf den Saiten vor sich, ihr tiefschwarzes Haar, ihre Lippen.
    »Was willst du hier, Jari?«, flüsterten diese Lippen. »Inmitten von Staub und Tod? Was willst du hier, wenn unten das Leben auf dich wartet? Vergiss doch den Tod.«
    Er öffnete die Augen. Trat von der nächsten Tür zurück, taumelte zur Treppe, rannte die Stufen hinunter. Sie hatte recht. Sie hatten nichts mit dem Tod zu schaffen.
    Das Zimmer ein Stockwerk weiter unten war unverändert, nur ein zusätzlicher Stapel Kleider lag jetzt auf seinem Bett. Sie hatte schließlich gesagt, dass sie sie hinaufgebracht hatte. Das Zelt war nach wie vor über die Stuhllehne drapiert, die Plastikbrotdose stand auf dem Schreibtisch, ein paar Kleider hingen über dem Bett, zufällig hingeworfen. Die Klänge der Harfe waren verstummt.
    Sie rannten den ganzen Weg bis zum See. Die Oktoberluft bestand aus flüssigem Gold. Er wusste, dass sie kalt war, doch er spürte ihre Kälte nicht. Er verlor Jascha im Rennen, sie blieb hinter ihm zurück, und er lachte und freute sich kindlich, dass er schneller war. Und dann stolperte er beinahe über den See und blieb stehen, nach Atem ringend. Er würde hier auf sie warten …
    »Da bist du«, sagte sie, neben ihm, und lächelte.
    Er fuhr herum, verwirrt. »Du … du warst vor mir hier?«
    »Nicht lange.« Sie nahm seine Hand. »Schau. Die Blätter auf dem Wasser sind Juwelen.«
    Die Blätter waren blutrot. Der Ahorn hatte in einer Ritze zwischen den Steinen Wurzeln geschlagen, und einer seiner starken Äste ragte gerade über den See hinaus. Von dort fielen die Blutblätter aufs glitzernde Wasser hinab.
    »Rubine«, wisperte Jari.
    Die helleren, gelben Blätter der Birken, die den See umstanden, flogen in einem Windstoß auf wie ein Schwarm Vögel. Der See hingegen glänzte so dunkel wie Jaschas Haar. Er war kreisrund und tief in den Stein der Berge geschnitten.
    »Ich nenne ihn das dunkle Auge«, flüsterte Jascha. »Er sieht einen an. Niemand weiß, wie tief er ist.«
    Jari lächelte. »Er ist so tief wie deine eigenen Augen.«
    Sie drückte seine Hand fester. »Willst du immer noch darin baden?«
    Er nickte. »Komm. Zeig mir, wo man ans Wasser kommt.«
    Sie führte ihn um den See herum und einen schmalen Pfad zwischen den Felsen hinunter bis zur sonnenbeschienenen Wasseroberfläche. Wie konnte etwas gleichzeitig sonnenbeschienen und dunkel sein? Jari streifte seine Kleider ab, ließ sie auf einem flachen Stein liegen und holte tief Luft. Dann sprang er ins Wasser. Es war so kalt, dass ihm die Luft wegblieb. Sein ganzer Körper schien binnen Sekunden taub zu werden, und er glaubte schon, er könnte Arme und Beine nicht mehr rühren, wäre starr wie die ausgestopften Füchse. Doch die Starre verließ ihn wieder. Er streckte die Arme aus und schwamm unter Wasser voran, tauchte auf, schnappte nach Luft und sah sich nach Jascha um.
    Sie stand noch immer am Ufer. Sie war nackt. Die Haut an ihren Armen war makellos. Doch auf ihrem linken Oberschenkel, an der Außenseite, sah Jari deutlich die Spur einer schlecht verheilten Wunde. Er blinzelte. Hatte er sich getäuscht? War die Narbe immer schon an ihrem Bein gewesen? Nichts schien ihm mehr sicher, seit er hier war. Äpfel hatte er gepresst, um Wein zu machen, aber vielleicht wäre es besser, die Finger vom Wein zu lassen. Der Faden, der Jari mit der Realität verband, wurde immer dünner.
    Jaschas Nacktheit war atemberaubend. Was wollte er mit der Realität?
    »Komm!«, rief er und reckte einen Arm aus dem Wasser, um zu winken. »Wenn man einmal im Wasser ist, spürt man die Kälte nicht mehr!« Was für ein symbolischer Satz. Zum Teufel mit der Symbolik. Er wollte nicht mehr nachdenken. Er wollte mit Jascha schwimmen, in der Eiseskälte eines Oktobertages, sie durchs Wasser jagen, mit ihr lachen … und dort, auf den Felsen am Ufer, wollte er noch ganz andere Dinge mit ihr tun …
    Sie sprang kopfüber ins Wasser, ein vollendeter Bogen. Und er schwamm mit ihr, jagte sie durchs Wasser, lachte. Er streckte die Hand aus, zog ihren nackten Körper zu sich, mitten im See.
    »Schau«, sagte sie und zeigte nach oben. Er folgte ihrem Blick. Der Himmel über dem See war ein kreisrundes Loch im Dach der Bäume; ein zweites Auge, so hell wie das andere dunkel. Dort oben, gleich einer winzigen Pupille, kreiste ein großer Vogel.
    »Ein Geier«, flüsterte Jascha.
    Als Jari sich von dem Himmelsstück abwandte, war sie ihm entschlüpft und untergetaucht. Sie

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