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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Holunderbeeren in die Presse streute, wurde das Blut dunkler.
    Wann hatte sie die Beeren aus dem Wald geholt? Wann hatte sie sich umgezogen? Sie steckte jetzt in weichen braunen Hosen und einem sanftgrauen Umhang mit winzigen aufgestickten Blüten an den Säumen. Der dunkle Saft würde Flecken darauf hinterlassen … Blutflecken … doch sie sah sich vor. Kein Fleck war auf der hellgrauen Wolle zu sehen.
    »Wir machen Wein daraus«, sagte sie. »Der Holunder ist gut für Wein, zusammen mit den Äpfeln.«
    »Wir?«
    »Du und ich.«
    Jari richtete sich auf und rieb seinen schmerzenden Rücken. Er selbst war dreckig von Kopf bis Fuß, verschwitzt und verklebt. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Es ist warm. Zu Hause sind wir immer in den Stadtbach gesprungen nach der Arbeit. Der Bach war nicht zum Baden gedacht, aber niemand hat uns gehindert. Wir waren jung.«
    Er hielt inne, erschrocken über die eigenen Worte. Jung? War er denn nicht mehr jung? War es denn nicht erst eine Woche her, seit er mit Matti und den anderen Lehrlingen im Bach zwischen den Häusern gebadet hatte? Und würde er nicht bald dorthin zurückkehren?
    »Ich wüsste einen Ort, wo wir ins Wasser springen könnten«, sagte Jascha, zögernd. »Es gibt einen See im Wald. Aber er ist sehr tief. Ich habe ein wenig Angst vor seiner Tiefe.«
    »Ich bin ein guter Schwimmer«, sagte Jari. »Wenn ich dabei bin, brauchst du keine Angst zu haben. Lass uns hingehen. Jetzt gleich, solange uns noch warm ist vom Arbeiten.«
    Sie schien noch immer zu zögern – doch schließlich nickte sie. »Dann rasch. Ich sehe nach, was es in der Küche noch Essbares gibt. Niemand kann arbeiten, ohne zu essen.«
    Sie rannten gemeinsam zum Haus zurück, um die Wärme und den Mut, ins kalte Wasser zu springen, nicht zu verlieren. Sie rannten wie Kinder. Vor der Küchentür hielt Jascha ihn auf.
    »Deine … deine Sachen«, keuchte sie. »Falls du … etwas Sauberes zum Anziehen brauchst. Sie … sie sind nicht mehr hier. Ich habe sie hinaufgebracht.«
    Wann?, wollte Jari fragen. Warum? Damit ich die Küche nicht betrete, nicht jetzt?
    Vor seinem Zimmer blieb er einen Moment stehen, um zu Atem zu kommen. Dann öffnete er die Tür – und hielt verwundert inne. Dies war nicht das Zimmer, in dem er geschlafen hatte. Er war sich sicher, dass er die Türen im Flur richtig gezählt hatte. Dieses Zimmer war größer als seines. Es gab nur wenige Möbel darin, eine Truhe, mehrere Kommoden. Keine Stühle. Keinen Tisch. Kein Bett. Niemand in diesem Zimmer brauchte einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett. Das Zimmer war voll mit ausgestopften Füchsen. Sie standen auf der Truhe, auf den Kommoden, säuberlich festgeschraubt auf ihren Brettern, und sahen mit leeren schwarzen Knopfaugen ins Nichts. Sie saßen und standen, kauerten und lagen. Das Licht, das durchs Fenster fiel, spielte auf ihrem glänzenden Fell. Sie waren tot, und doch waren sie schön. Schöner noch als lebendige Füchse, perfekt in der erstarrten Bewegung, voller Anmut.
    Jari trat einen Schritt ins Zimmer hinein.
    »Wozu …«, flüsterte er. »Warum … Wer …«
    Langsam ging er zwischen den Füchsen hindurch, fuhr hier mit dem Finger über ein nicht mehr lauschendes Ohr, berührte dort eine für immer kalte Nase. Was war das – ein abstruser Friedhof? Von unten aus dem Haus drangen gedämpft die Klänge einer Harfe. Er streckte gedankenverloren die Hand aus und streichelte einen weiteren toten Fuchs – da sprang der Fuchs auf und schoss zur Tür wie ein roter Blitz. Jari hörte sich schreien. Doch die übrigen Füchse standen so still wie zuvor.
    Er verließ den Raum rückwärts, ohne sie aus den Augen zu lassen. War alles nur Schein und Trug? War keiner der Füchse ausgestopft?
    Er schlug die Tür hinter sich zu und atmete tief durch. Der Fuchs war nirgendwo zu sehen. Und auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er sich das Ganze nicht eingebildet hatte. Ob der Fuchs nicht immer noch starr und tot dort auf der Kommode lag. Er sah seinen roten Körper noch vor sich, den Rücken an die Dachschräge gepresst …
    Die Dachschräge. Und auf einmal begriff Jari, wo er sich befand. Er war eine Treppe zu weit nach oben gestiegen. Dies war das Stockwerk über dem, wo sein Zimmer lag. Das dritte und letzte Stockwerk des alten Hauses. Waren all diese Räume voll mit ausgestopften Tieren? Er streckte die Hand nach der Klinke der nächsten Tür aus – da waren wieder die Klänge der Harfe. Wenn er die Augen

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