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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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»Die Birkenblätter sind wie lauter kleine Goldstücke, und der See ist ein dunkles Auge, das dich ansieht, kreisrund, und der Himmel spiegelt sich darin wie eine Erinnerung. Das Haus mit seinen Spiegeln spiegelt nur sich selbst, tausendfach, die Kerzen und die Zweige in den Vasen, und auch die Musik, es spiegelt die Musik wider. Und überall, wo du deinen Fuß hinsetzt, bewegst du dich inmitten von Schönheit. Es ist beunruhigend.«
    »Cizek?«, fragte Matti verunsichert. »Du redest wirr. Bist du betrunken?«
    »Nein.« Jari lachte. »Vielleicht ist das die Nachwirkung der Fliegenpilze.«
    »Fliegenpilze? Cizek, was ist das für ein Mädchen, von dem du redest?«
    »Das schönste Mädchen der Welt«, antwortete Jari, ohne zu zögern. »Aber etwas ist nicht richtig, etwas stimmt nicht mit ihr. Ich habe sie mit sich selbst sprechen hören, Matti, gerade eben. Blumen wollte sie pflücken, hat sie gesagt, für den Alten … Aber es ist niemand hier außer uns. Und am See ist ein Grabkreuz in den Felsen gemeißelt, und abends spielt sie auf dem Cello oder der Oboe, und das Feuer im Kamin brennt, und es gibt ein Sofa.«
    Matti pfiff durch die Zähne. »Ein Sofa und ein Kamin? Das hört sich gut an. Weiche Kissen und das schönste Mädchen der Welt. Und Fliegenpilze. Nicht schlecht. Was tut ihr so auf dem Sofa?«
    »Nichts.«
    »Cizek – nichts?!«
    »Nichts«, sagte Jari und legte auf.
    Und wünschte sich, Matti würde noch einmal anrufen, doch er rief nicht an. Jari wählte seine Nummer – und unterbrach die Verbindung. Schaltete das Handy aus. Er konnte Matti nichts erklären. Er verstand ja selbst nichts.
    Als er die Höhe des singenden Felsen hinter sich ließ und wieder in den Wald eintauchte, fing ihn das Licht. Es fiel durch die roten und gelben Blätter und umgab ihn mit einem weichen, warmen Mantel. Erst jetzt merkte Jari, wie kalt der Sturmwind oben auf dem Felsen gewesen war. Der Wald war nicht länger ein erstickendes Meer, er war wie eine weiche Decke, und Jari fühlte sich, als käme er nach Hause.
    Er pflückte Brombeeren gegen den Hunger und dachte einmal mehr an Matti. Ein Teil von ihm wünschte sich, in diesem Moment neben ihm auf dem schmalen Fensterbrett zu sitzen und hinab auf den Parkplatz zu sehen. Ein Bier zu trinken. Über Mattis ernste Liebesgeschichten zu reden und noch ein Bier zu trinken. Ein anderer Teil von ihm war nicht sicher, ob er die Hässlichkeit eines Hochhausfensters oder eines Parkplatzes überhaupt noch ertragen konnte.
    Während er unter den Bäumen entlangwanderte, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Zwei Tatsachen waren in jedem Fall erstaunlich: erstens, dass Jascha mit sich selber über ihn stritt. Zweitens, dass sie wirklich nicht wusste, woher das Weinen kam.
    Aber da war noch mehr … Er begann schon, das Gespräch zu vergessen … Da war so vieles gewesen, was er nicht begriff! Der Zeisig wird gebraucht . Wozu? Warum? Und wieso verbot Jascha sich selbst, zu fühlen? Es ergab keinen Sinn. Ich muss schnell sein diesmal . Schnell sein. Womit?
    Er sah an seinen Beinen hinunter und erschrak. Die Nebel waren zurückgekehrt. Sie spielten um seine Füße, krochen an ihm hoch und machten seine Kleidung klamm, und er sah ihre weiße Milchsuppe zwischen den Bäumen heranrollen. Es dämmerte bereits zwischen den Nebelschwaden, der Abend wurde blauviolett, die Herbstblätter verloren ihre leuchtenden Farben. Der Wind strich nur noch als Schlaflied durch die Äste.
    Und dann hörte Jari etwas Neues: Er hörte jemanden hämmern. Vielleicht war es nur ein Specht. Doch als er in die Richtung des Hämmerns ging, da wurde es stetig lauter. Der Specht hätte mehrere Meter messen müssen.
    Jari trat durch die Nebel auf eine kleine Lichtung hinaus. An ihrem anderen Ende lehnte eine grobe Holzleiter an einem Baumstamm, und jemand stand darauf und war eben dabei, die letzten Nägel an einer schmalen Plattform anzubringen. Ein Hochsitz. Jari sah eine Weile zu. Der Hämmerer war ein gedrungener kleiner Mann in tarngrüner Kleidung, tarngrünen Gummistiefeln und einer braunen Wollmütze. Schließlich steckte der Mann den Hammer in die Jackentasche, setzte sich auf die Plattform und zündete sich eine Zigarette an. Erst danach blickte er auf.
    Jari hob den Arm und winkte. Der Mann winkte nicht zurück. Er rauchte nur und beobachtete Jari, so wie man ein Stück Wild beobachtet. Jari ging quer über die kleine Lichtung auf den Hochstand zu.
    »Guten Tag«, sagte er.
    »Tag«, sagte der

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