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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wurden. Zuerst glaubte er, es wären die Töne eines Cellos. Dann glaubte er, er hörte die Klänge einer Harfe. Oder war es die Melodie einer Oboe?
    Die Musik wies Jari eine Richtung, und er schlug sie ein. Die Äste, die der Wind jetzt immer stärker hin und her peitschte, schlugen ihm ins Gesicht, im Tal unten musste ein regelrechter Sturm über die Felder fegen. Und dann stand Jari am Fuß eines riesigen Felsens. Er ragte aus dem Grünrotgold der Bäume auf, reichte bis weit über ihre Wipfel, war wie ein abstraktes Denkmal. Die Musik sickerte von seiner Spitze zu Jari herab. War es Jascha, die diese Musik ins Leben rief, oder war es jemand ganz anderer?
    Er zögerte einen Moment. Dann begann er, um den Felsen herumzugehen und einen Aufstieg zu suchen. Der Felsen war nicht steil, und er fand etwas wie einen Pfad, der sich hinaufwand. Einen Pfad, der aussah, als wäre er von vielen Füßen ausgetreten. Langsam stieg Jari höher, Fuß vor Fuß, vorsichtig, um auf dem glatten Untergrund nicht auszurutschen. Die Töne von der Spitze des Felsens wurden immer deutlicher. Sie waren nicht immer harmonisch, oft merkwürdig durcheinandergestreut, ein modernes Stück, das Jaris Verständnis von Musik überstieg.
    Aber je höher er kam, desto klarer wurde ihm eines: Es war nicht ein Mensch, der dort oben saß, noch verborgen vor Jaris Blicken durch die Buckel und Beulen des Steins. Es waren mehrere . Sie haben mich von dort oben längst gesehen, dachte Jari. Sie warten auf mich . Nur – wer waren sie ?
    Als er über die Grenze der Baumwipfel hinaufstieg, war es, als tauchte er aus einem Meer auf. Als wäre er tagelang unter Wasser gewesen. Der Wind zerzauste sein Haar und riss an seiner Kleidung, als stünde er tatsächlich am Meer. Er stieg noch ein paar Meter höher und blieb stehen. Noch immer sah er die Musiker nicht, doch er verstand jetzt, weshalb sie hierhergekommen waren. Es war wunderbar, von oben über den Wald hin zu sehen, es war, als fiele eine Last von ihm.
    Und dann stand er auf der Spitze des Felsens – keine Spitze eigentlich, sondern ein ebener Platz von der Größe seines Betts in Jaschas Gästezimmer. Es war niemand da. Niemand.
    Nur die seltsam schrägen und manchmal vollkommen harmonischen Töne.
    War dies eine Nachwirkung der Pilze? Oder wurde er verrückt?
    Er stand auf, drehte sich um seine eigene Achse, einmal, zweimal, dreimal – und fand nichts außer dem porösen Gestein, in den Regen oder längst verflogene Gase Löcher und Röhren gegraben hatten. Röhren. Natürlich. Es war der Fels selbst, der sang. Der Wind spielte in den tausend schmalen Hohlräumen wie auf einer gigantischen Orgel, der wahren Kirchenorgel des Waldes. Jari schüttelte den Kopf und grinste über sich selbst. Ein singender Stein. Ein Phänomen der Natur. Nichts weiter. Erklärbar wie die Schneiderpuppen.
    Und dann vernahm er etwas anderes – eine andere Stimme.
    Sie kam von der anderen Seite des Felsens; gegenüber der, auf der er hinaufgeklettert war. Jari sah nicht, wer da sprach. Er legte sich auf den Bauch, um näher an die Stimme heranzurobben, denn auf der anderen Seite fiel der Fels steil ab. Er konnte gut ohne die Erfahrung leben, dem Sprecher vor die Füße zu fallen.
    Die Stimme war jetzt beinahe direkt unter ihm. Der Fels schien hier ein wenig überzuhängen.
    »… dir dabei gedacht?«, fragte sie.
    »Nichts natürlich«, antwortete die Stimme sich selbst. »Du hast einfach gar nicht gedacht. Du hast gefühlt. Das ist schlimmer.«
    »Ich habe nur seine Sachen getragen.«
    Natürlich wusste er, wessen Stimme es war. Gab es denn nur eine Person in diesem Wald, der man begegnen konnte?
    »Du warst immer vernünftig. Immer die mit dem klaren Kopf. Und jetzt trägst du seine Sachen. Und du gehst zu weit. Du bist zu schnell.«
    Die Stimme wanderte unter dem überhängenden Felsen hin und her, Jascha schien auf und ab zu gehen, während sie mit sich selbst stritt.
    »Ich habe ihn nur geküsst.«
    »Nur. Nur seine Sachen getragen. Ihn nur geküsst. Was hast du noch nur getan?«
    »Nichts!« Da war die Verzweiflung eines Kindes in ihrer Antwort an sich selbst. »Ich muss schnell sein diesmal! Ich habe sie doch reden hören im Dorf! Sie kommen, sie sind schon fast auf dem Weg. Sie kommen, um zu zerstören. Einmal mehr. Der Zeisig wird gebraucht.«
    »Der Zeisig darf nicht fortfliegen.«
    »Nicht weiterziehen. Nicht Abschied nehmen.«
    »Und ich versuche, seine Flügel zu stutzen. Aber es ist nicht leicht.«
    »Weil

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