Solange die Nachtigall singt
du fühlst. Keine Gefühle, Jascha, keine Gefühle! Und wenn du alles gibst, wird er es nehmen und gehen.«
»Er hört ein Kind weinen nachts. Was ist das für ein Kind, das nachts weint?«
»Ich weiß es nicht. Der Wind. Die Wölfe. Ein Traum.«
»Er ist anders als die anderen. Die anderen haben kein Kind weinen hören. Und er stellt Fragen.«
»Vielleicht ist es besser, eine davon zu beantworten. Komm. Es ist Zeit, die Blumen zu schneiden, die weißen Blumen, die der Alte so liebt. Zeit, ihm welche zu bringen. Es ist Sonntag.«
Jari beugte sich noch ein wenig weiter vor, und nun sah er den Fuß des Felsens. Dort stand Jascha, sie stand in einem Meer von weißen Blüten, die auf grünen Stängeln wippten. Sie schnitt die Blumen mit ihrem scharfen Messer, sie hatte bereits den ganzen Arm voll Blumen.
Für einen Wimpernschlag glaubte er, den Schatten einer zweiten Person wahrzunehmen, einer Person, die näher beim Felsen stand und die er deshalb nicht sah. Aber es war Jaschas Stimme gewesen, mit der Jascha gestritten hatte, und als er genauer hinsah, da war der Schatten nur der eines jungen Baumes.
Er robbte zurück, rollte sich auf den Rücken und sah in den blauen Himmel, über den der Wind die Wolken trieb. Ein Geräusch wie das Trappeln von Hufen entfernte sich durch den Wald.
Dann war nur noch die Musik des Windes im Felsen zu vernehmen.
Und dann klingelte Jaris Handy.
Lichtwein
Einmal waren sie alle zusammen ins Theater gegangen, das war kurz vor Weihnachten gewesen. Es hatte nicht geschneit, weil es dort, wo sie damals gelebt hatten, niemals schneite. Im Theater hatte es geschneit, aber die Flocken waren aus Papier gewesen und viel zu groß. Sie hatten oben gesessen, ganz vorne, es war eine große Stadt gewesen mit einem großen Theater. Die einfachen Leute betrachteten es nur von Weitem, voll Ehrfurcht – oder vielleicht voll Hass.
Die kleinen Mädchen hatten gewollt, dass er sich in die Mitte setzte, aber man kann sich nicht in die Mitte von dreien setzen, und so hatte er das dritte kleine Mädchen auf den Schoß genommen. Die Theatervorführung war eigentlich kein Theater gewesen, sondern ein Ballett, Der Nussknacker , sie wusste es noch genau. Sie hatte die Geschichte nicht verstanden, weil niemand geredet hatte, aber es war schön gewesen, auf seinen Knien zu sitzen.
Zwei Tage später, an Weihnachten, hatte er plötzlich fortgemusst. Sie hatten Weihnachten mit der Nanny gefeiert. Ohne Baum. Erst als sie zurückgekehrt waren nach Deutschland, hatte es wieder Tannenbäume gegeben. Solche wie den, der jetzt vor ihnen stand.
Sie saßen zur Abwechslung nicht in einem Keller, sondern in einer Wohnung, deren Fenster von Rollos bedeckt waren, die sich nicht öffnen ließen. Drinnen warf eine sehr hässliche Stehlampe ihr Licht. Der Baum stand auf einem Beistelltisch, er war sehr klein. Aber er duftete. Sie waren seit zwei Tagen hier.
Die Tür öffnete sich, und der Mann kam herein, der netter zu ihnen war. Er hatte es leichter, nett zu sein; er sprach ihre Sprache. Er war ein Deutscher. Er half dem anderen, aus dem Land dort, weil sie auf irgendeine Weise zur selben Gruppe gehörten. Es war alles sehr kompliziert.
Der Mann trug eine dicke Jacke und eine Tüte. Auf den Ärmeln der Jacke war Schnee.
Aus der Tüte holte er Dinge: einen Strohstern für die winzige Spitze des winzigen Baumes; einen Engel aus Papier zum Anhängen, eine Schachtel mit Lebkuchen.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte der Mann.
»Danke«, sagte das erste kleine Mädchen.
»Danke«, sagte das zweite kleine Mädchen.
»Danke«, sagte das dritte kleine Mädchen. Die Nannys und Amas und Kindermädchen hatten sie gut erzogen.
Der Mann seufzte und setzte sich in den Sessel neben dem Beistelltisch.
»Es gibt ein Problem«, sagte der Mann. »Ihr müsst noch einen Brief schreiben. Sie wollen uns nicht geben, was wir brauchen.« Er streckte die Hand aus und nahm die Hand des zweiten kleinen Mädchens, das sie nicht schnell genug wegzog. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ihr wollt zu eurem Vater, ich weiß. Aber er und die Leute von der Regierung … Sie müssen endlich begreifen, dass wir es ernst meinen. Es tut mir leid.«
Dann presste er die Hand des zweiten kleinen Mädchens auf den Tisch, neben den Baum, in seiner anderen Hand blitzte ein Messer; es ging schneller, als irgendjemand blinzeln konnte. Das Metall sauste hinab, und das zweite kleine Mädchen schrie. Als der Mann ihre Hand losließ, sahen das erste und das dritte
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