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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sanfte Berührungen, Finger, die ihn streichelten, und dann sank er in einen tiefen, tiefen Schlaf.
    Es war heller Tag, als Jari erwachte. Sein Kopf war schwer, und er war durstig. Er ging ins Bad nebenan, hielt sein Gesicht unter das kalte Wasser und trank gierig. Der verdammte Wein. Er stützte sich mit beiden Armen auf das schmale Fensterbrett.
    »Matti«, flüsterte er, »zu Hause, damals, nach unseren Biernächten … So verdammt schlecht war mir nie, weißt du? Was tust du in diesem Moment? Hast du schon die nächste Liebe deines Lebens gefunden? Ich wünschte … ich wünschte, du wärst hier. Nur für ein paar Minuten, nur um ein paar vernünftige Sätze zu reden.«
    Unten vor dem Haus saß Jascha in der Sonne. Sie hatte den Kopf über ein Stück purpurnen Stoff gebeugt, das sie bestickte. Jari erkannte die goldenen Äste der Apfelbäume, die unter ihren Händen entstanden. Sie trugen keine Äpfel mehr. Der Wind hatte begonnen, ihnen auch die Blätter zu entreißen, und Jascha stickte die Schönheit ihres knorrigen Alters in das Tiefrot des Tuchs.
    Er öffnete das Fenster, und Jascha sah auf. Sie streckte einen Arm aus, wie um ihn zu berühren, obwohl es unmöglich war auf diese Entfernung. Und etwas stieg in ihm auf wie eine warme Welle. Die Welle, dachte er, könnte Zärtlichkeit heißen, Besorgnis, vielleicht sogar Liebe. Wenn sie anhielt.
    Hatte er nur geträumt, was gestern Abend geschehen war? Er musste geträumt haben.
    »Jascha!«, rief er. »Ich …«
    Sie ließ den Arm sinken und schüttelte den Kopf. »Joana«, sagte sie.
    »Joana«, wiederholte er, tonlos. Kein Traum also. »Wo ist Jascha?«
    »Im Schneiderzimmer«, sagte Joana. »Heute ist Montag. Nadel-und-Faden-Tag. Man muss auf die Wochentage achten hier draußen, damit einem die Zeit nicht entkommt. Sonst ertrinkt man in dieser grünen Welt.«
    Sie hatte das schon einmal gesagt, gestern, beim Frühstück. Also hatte er mit Joana gefrühstückt. Aber mit welcher der Schwestern war er im See geschwommen? Mit welcher hatte er Äpfel zu Goldblut gepresst? Welche hatte ihn im Wald allein gelassen, und welche hatte ihn im Nebel wiedergefunden und nach Hause gebracht?
    »Wo ist der Unterschied?«, rief er hinunter. »Der Unterschied zwischen euch?«
    »Es gibt nur einen, mein Zeisig«, antwortete Joana und stach die Spitze der Nadel in den Stoff. »Einen einzigen. Ich bin elf Minuten älter.«
    Nein, dachte er. Es muss andere Unterschiede geben. Es muss möglich sein, sie auseinanderzuhalten. Er wandte sich ab, wortlos, um Jascha zu suchen.
    Er fand sie eine halbe Stunde später an der Nähmaschine, zwischen den Schneiderpuppen. Sie waren noch immer blind.
    »Jascha«, sagte er. »Du bist doch Jascha?«
    »Natürlich«, sagte Jascha und drehte sich um.
    Wellen von grausilbernem Stoff mit eingewirkten dunkelroten Streifen flossen über den kleinen Nähtisch, als wäre es das Wasser des Sees, das Jascha zu Kleidern verarbeitete. Auf ihrem Schoß hatte sich der Fuchs zusammengerollt. Ihr kurzer Rock war hochgerutscht; der Fuchs rekelte sich im Schlaf und hielt sich, um nicht zu fallen, mit einer Pfote an Jaschas Beinen fest: Beinen in einer dünnen tannengrünen Strumpfhose voller eingewebter Blätter. Jari schluckte und sah weg.
    »Elf Minuten«, sagte er. »Ist das wirklich der einzige Unterschied?«
    »Nichts ist jemals das Einzige«, antwortete Jascha. »Aber es ist wahr. Ich bin die Jüngste.« Sie wandte sich wieder der Nähmaschine zu und begann, das Schwungrad zu treten. »Heute ist Montag, mein Zeisig, und Montag ist Nadel-und-Faden-Tag. Man muss auf die Wochentage achten hier draußen, damit einem die Zeit nicht entkommt. Sonst ertrinkt man in dieser grünen Welt.«
    Jari schüttelte den Kopf. War es doch Jascha gewesen, die diese Worte gestern zu ihm gesagt hatte? Es gab keine Möglichkeit, es jemals herauszufinden. Elf Minuten waren unsichtbar.
    »Willst du nichts essen?«, fragte Jascha, ohne sich noch einmal umzudrehen. »In der Küche stehen die Reste des Frühstücks.«
    Jari nickte, ging rückwärts aus der Nähstube, schloss die Tür.
    »Und dann?«, rief er, plötzlich wütend. Aber er öffnete die Tür nicht noch einmal. Er stand im Flur, die Hände zu Fäusten geballt. »Was tue ich dann? Was tue ich überhaupt hier? Ihr habt mich die ganze Zeit belogen, euer Spiel ist ein Spiel aus Lügen! Der Zeisig wird gebraucht, hast du gesagt, oder … oder Joana hat das gesagt … Wozu braucht ihr mich? Nur, um jemanden zu haben, den

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