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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Mann und rauchte.
    »Wer … sind Sie?«
    Der Mann betrachtete die Spitze seiner Zigarette. Er schien über die Frage nachzudenken. »Tronke. Gunther Tronke.« Das erklärte nichts.
    »Jari«, sagte Jari. »Cizek.«
    »Die Nebel kommen«, sagte Tronke. Zeit für dich, nach Hause zu gehen, sagte sein Blick.
    Jari nickte. »Die Nebel kommen jeden Tag um die gleiche Zeit, und jeden Tag um die gleiche Zeit merke ich, dass ich nicht mehr weiß, wohin ich gehen muss.«
    Tronke hob eine Augenbraue. Du bist also schon länger hier, sagte die Augenbraue.
    »Vielleicht können Sie mir helfen«, sagte Jari.
    Tronke zuckte die Schultern. Wenn ich wüsste, wohin du willst, sagten seine Schultern.
    »Ich wohne … Zurzeit wohne ich … in diesem großen, alten Haus hier im Wald. Bei Jascha. Kennen Sie sie?«
    Tronke nickte wieder, wortlos. Dann zeigte er in eine Richtung, die Jari niemals für die richtige gehalten hätte.
    »Danke«, sagte Jari. »Ich … sagen Sie … was tun Sie hier?«
    »Ich bin der Förster«, antwortete Tronke, »und der Jäger.« Es war eine so einfache, naheliegende Antwort, dass Jari beinahe lachte.
    »Der Förster. Natürlich.«
    »Wildschweine«, sagte Tronke und zeigte auf die Lichtung. Erst jetzt sah Jari die aufgegrabenen Stellen in der feuchten Herbsterde.
    »Schießen Sie die Wildschweine?«
    »Manchmal. Ich jage lieber im nächsten Tal. Dieser Wald ist zu wild.«
    Er kletterte von der Leiter, hob einen Rucksack aus dem Gras auf und schulterte ihn. Dann nickte er Jari noch einmal zu und wandte sich ab, um zu gehen. In eine andere Richtung als die, die er Jari gewiesen hatte. Doch plötzlich schien er zu zögern.
    »Junge«, sagte er dann. »Komm mit. Raus.«
    Jari machte einen Schritt auf Tronke zu, in die Richtung, die irgendwann hinausführen würde aus dem Nebelwald. In seinem Kopf hing noch der Nachhall von Jaschas Worten. Der Zeisig wird gebraucht. Der Zeisig darf nicht fortfliegen. Jascha brauchte ihn. Manchmal hasste er sie, aber er konnte nicht gehen. Sie brauchte ihn. Tischlergesellen waren austauschbar. Kollegen, mit denen man über Frauen reden und Bier trinken konnte, waren austauschbar. Cizek, der Zeisig im wilden Wald, der das Kind weinen hörte und zu viele Fragen stellte, war nicht austauschbar. Er war noch nie so gebraucht worden, er spürte es deutlich, und es tat weh.
    »Nein«, sagte Jari. »Vielen Dank. Aber – warten Sie! Wenn Sie das Haus kennen … kennen Sie Jascha?«
    Tronke nickte.
    »Schon lange?«
    Wieder ein Nicken.
    »Ich … ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Ich verstehe so vieles nicht …«
    Jetzt schüttelte Tronke zum ersten Mal den Kopf. »Niemand versteht diese Mädchen.«
    Dann wandte er sich endgültig ab und verschwand mit raschem Schritt zwischen den Bäumen.
    Jari blieb stehen und schüttelte selbst den Kopf. Niemand versteht diese Mädchen. Der Satz hätte zu Matti gepasst, wobei Matti gesagt hätte: Niemand versteht diese Frauen. Zu Gunther Tronke passte der Satz nicht. Tronke hatte kaum mehr als ein Dutzend Worte gesagt: Tag . Wildschweine . Ich bin der Förster . Wieso fing er auf einmal an, über Mädchen im Allgemeinen zu philosophieren?
    »Diese Mädchen«, murmelte Jari, während er in die Richtung ging, die Tronke ihm gewiesen hatte. In der Ferne lief etwas durchs Dickicht, vielleicht die Wölfe. »Diese Mädchen.«
    Und auf einmal begriff er etwas.
    Auf einmal wurde ihm sehr kalt.
    Bilder und Geräusche fielen in seinem Kopf durcheinander, während er versuchte, im Nebel die Richtung beizubehalten: das Rauschen von Wasser im Bad. Die Töne eines Liedes, das Jascha nicht gesungen hatte. Ihre Unfähigkeit, sich zu erinnern, was sie noch vor Kurzem zu ihm gesagt hatte. Ihre Lippen auf seinen, ihr Körper, der sich an ihn presste, ein Geräusch im Wald. Jemand ruft mich. Obwohl da niemand sein konnte, der nach ihr rief.
    Natürlich, der Pilz. Fünfhundert Prozent Wirkstoffschwankungen. Der Pilz war schuld an allem.
    Oder nicht?
    Jari fand das Haus, als das letzte Licht des Tages starb. Im Flur hinter der Tür brannte eine kleine Öllampe. Jascha hatte sie für ihn angezündet, und ihm wurde warm, als er das dachte. Sie wartete auf ihn. Sie würde die Hintertür erst abschließen, wenn sie wusste, dass er sicher nach Hause zurückgekehrt war. Oder war sie losgegangen, um ihn zu suchen?
    Das Haus war still.
    Neben der Treppe entdeckte Jari wieder einen Riss im Putz. Er rückte den Wandteppich, der dort hing, ein wenig zur Seite, sodass

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