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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er den Riss verdeckte, und sah nicht mehr nach, ob es Ecken gab, die schimmelten. Er ging durch die verwirrenden Flure, wo überall kleine Lampen brannten, er fand sich jetzt zurecht. Dennoch erschrak er, als er sich selbst in einem der bodentiefen Spiegel sah, der wiederum einen anderen Spiegel spiegelte: Da waren sie wieder, all diese Cizeks, die sich bis in die dunkle Unendlichkeit fortpflanzten. Sie standen wie eine Reihe von livrierten Dienern, die alle darauf warteten, diesem unerklärlichen Haushalt zu dienen.
    In der Küche standen zwei Teller und zwei Gläser. Er hielt eines davon gegen das Licht. Im Kristall wuchsen die Muster verschlungener Efeuranken. Da war ein winziger Rest von rotem Wein in dem Glas. Sie musste daraus getrunken haben, während sie gewartet hatte. Vielleicht hatte sie sich Sorgen gemacht. Das zweite Glas war für ihn bestimmt … Aber auch an seinem Rand fand er einen kaum wahrnehmbaren Abdruck von Lippen.
    Über einen der Stühle war ein Tuch geworfen: weiße Wolle mit winzigen grünen Stickereien. Über der Lehne des Stuhls gegenüber lag das gleiche Wolltuch: weiße Wolle. Grüne Stickerei. Natürlich konnte jeder zwei gleiche Tücher besitzen. Jari besaß zwei beinahe identische schwarze Cordhosen. Und doch …
    Er goss Wein in das Glas mit dem Lippenabdruck. Seine eigenen Lippen berührten die Spuren der anderen Lippen, als er trank. Er trank rasch. Er goss Wein nach, und das Licht schien hindurch und machte ihn hell und unwirklich, und er trank wieder. Die seltsam würzige Süße machte seinen Körper schwer, doch ihm wurde nicht wärmer. Das sind die Früchte des Waldes, hörte er Jascha sagen. Er trank ein drittes Glas. Die Flasche war leer.
    Seine Füße trugen ihn zu der Schiebetür, hinter der er das Kaminfeuer prasseln hörte. Er hob die Faust und klopfte.
    »Cizek«, sagte Jascha. Sie war also doch da.
    »Ich muss dich etwas fragen«, sagte Jari laut, etwas zu laut vielleicht. Der Wein machte die Feineinstellung seiner Stimmbänder schwierig. »Und ich brauche eine Antwort. Jetzt.«
    »Warum kommst du nicht herein?« Ihre Stimme war sanft.
    Jaris Herz schlug rasend schnell. Die Wände drehten sich um ihn. Er schob die Schiebetür auf. Sie glitt so lautlos zur Seite wie stets.
    »Bist du …«, fragte er und tat einen schwankenden Schritt in den Raum hinein, »bist du wirklich …«
    Er hörte selbst, wie unzurechnungsfähig er klang. Er verwünschte den Wein. Aber er hätte dies niemals tun können, ohne sich Mut anzutrinken. Er stützte sich am Türrahmen ab und starrte ins Zimmer, blinzelnd. Hier war das Feuer die einzige Lichtquelle, und das Spiel der Flammen machte es schwierig, Dinge genau zu erkennen. Erst nach einer Weile gewöhnten sich seine Augen an das Hin-und-her-Springen der Lichtflecken.
    »… alleine hier?«, fragte Jari.
    Aber er fragte nicht mehr wirklich. Er sah ja, er sah.
    Sie lehnten an der Wand hinter dem Sofa, in einer Ecke, vollkommen entspannt. Wie jemand an einer Hausecke lehnt, der auf eine Verabredung wartet. Ihre Schultern berührten sich dort, wo die Wände sich trafen.
    Sie sahen ihn an.
    Sie lächelten.
    Sie waren vollkommen identisch.

Morgenpurpur
    Sie waren vollkommen identisch.
    Das glänzende schwarze Haar, die dunklen Augen, die blasse Haut, die feinen Gesichtszüge. Und sie trugen die gleichen Kleider: feine holunderfarbene Wolle, weinfarbene, blutfarbene Wolle, die mehr enthüllte, als sie verbarg. Ihre Füße waren nackt, ihre weißen Zehen versanken halb im dicken Teppich. Und dann öffneten sich ihre weichen Lippen.
    »Du hast es herausgefunden«, sagte Jascha.
    »Du warst schnell«, sagte die andere Jascha.
    »Schneller als die anderen«, sagte Jascha.
    »Ihr heißt nicht beide Jascha«, sagte Jari.
    »Natürlich nicht«, sagte die eine Jascha.
    »Joana und Jascha«, sagte die andere. »Jascha und Joana.«
    »Und welche von euch ist Jascha?« Er sah zwischen ihnen hin und her, mit aufsteigender Panik in der Brust. »Welche von euch kenne ich schon?«
    Sie lächelten wieder. »Du kennst uns beide«, sagte die eine.
    »Beide zu gleichen Teilen«, sagte die andere.
    »Ich bin Joana, und das ist Jascha, aber es tut nichts zur Sache, wer wer ist. Wir hoffen, du verzeihst uns unsere Spiele. Es ist zu verlockend.«
    Jari stieg über den schlafenden Fuchs und ließ sich aufs Sofa fallen, seine weinschweren Beine hielten ihn nicht länger.
    »Eure Spiele«, murmelte er und schloss die Augen.
    Da waren Hände auf seinem Gesicht,

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