Solange die Nachtigall singt
kleine Mädchen ihre Hand nicht, weil der Mann ein Taschentuch daraufpresste. Er presste sehr fest. Das Tuch verfärbte sich dunkelrot. Das Messer war auf den Boden gefallen. Die Augen des zweiten kleinen Mädchens waren weit aufgerissen, ihr Mund stand halb offen.
Der Mann steckte etwas in eine Plastiktüte und die Plastiktüte in seine Tasche. Dann hielt er Verbandszeug in den Händen, es war, als hätte er ein Dutzend Hände. Aber an der Hand des zweiten kleinen Mädchens, die er mit geübten Bewegungen verband, fehlte ein Finger.
»Wir schicken ihn ihm«, sagte er. »Euer Vater braucht einen Beweis. Und die anderen Leute, die vor allem. Die Leute von der deutschen Regierung. Es tut mir leid. Fröhliche Weihnachten.«
Das Handy steckte in Jaris Hosentasche, und er zog es so hastig hervor, dass es ihm fast aus der Hand gefallen wäre. Es wäre weiter unten auf dem singenden Felsen zerbrochen.
Der Zeisig darf nicht fortfliegen. Nicht weiterziehen.
Das Handy war sein einziger Kontakt zur Außenwelt. Wer hatte es wieder eingeschaltet? Tat jemand das, um den Akku zu leeren?
Er presste es ans Ohr, als hinge sein Leben davon ab. »Ja?«
»Cizek?«
»Matti«, sagte Jari und lächelte. Er dachte daran, wie er Matti beinahe dazu überredet hatte, mit ihm in die Berge hinaufzuwandern. Aber Matti hatte schon eine Weile an einem neuen Mädchen gearbeitet, diesmal mit blondiertem statt violettem Haar, und am Tag nach der Prüfung hatte er es endlich geschafft, sie ins Bett zu kriegen, weshalb er beschlossen hatte, lieber dortzubleiben. Im Bett.
»Wo bist du?«
»In den Bergen. Das weißt du«, sagte Jari. »Wo bist du?«
»In der Küche, auf dem Fensterbrett«, antwortete Matti. »Und das weißt du. «
Jari grinste. Er stellte sich vor, wie Matti in der winzigen Küche seiner winzigen Wohnung auf der winzigen Fensterbank saß, bei offenem Fenster, wie immer, in der einen Hand die Zigarette, in der anderen das Telefon, stets gefährdet, aus dem dritten Stock auf den Parkplatz zu fallen. Er sah Mattis langes, wirres Haar vor sich, sah die frische Tätowierung auf seinem rechten Oberarm, wo er das Hemd neuerdings hochgekrempelt trug. Die Tätowierung zeigte ein brennendes Herz, das von einem Dolch durchbohrt wurde, was Jari als etwas zu viel des Guten empfunden hatte.
»Verbrannt und erdolcht?«, hatte er Matti gefragt und gelacht. »Eines von beiden hätte es auch getan.«
»In der Liebe, Cizek, wirst du immer verbrannt und erdolcht«, hatte Matti geantwortet, und Jari hatte sich sehr bemüht, nicht zu lachen. Matti nahm die Liebe sehr ernst, bei jedem Mädchen, das er liebte. Er liebte im Schnitt ein halbes Jahr lang sehr ernst und wandte sich dann einer neuen sehr ernsten Liebe zu.
»Wie läuft’s mit deiner Wanderei?«, fragte Matti, und Jari hörte ihn an seiner Zigarette ziehen. »Rennst du wirklich da oben im Gebirge rum, ganz allein? Einheit mit der Natur und so?«
»Es ist alles ein wenig anders gekommen, als ich dachte«, antwortete Jari vorsichtig.
»Ja, das kenn ich«, sagte Matti. »Hier auch. Ich hätte doch mitgehen sollen. Mein Mädchen, die ist weg, hat mich einfach sitzen lassen, nach zwei Tagen. Soll einer die Frauen begreifen. Na, da oben in den Bergen, wo du bist, da gibt’s sicher keine Frauen, was? Keine, die dauernd mit dir diskutieren wollen über dies und das. Muss schön sein da. Still.«
»Still. Ja. Nicht ganz.« Jari hielt das Handy näher an den Stein. »Hörst du das?«
»Singt da einer?«
»Der Felsen. Der Felsen, auf dem ich sitze, singt. Es ist der Wind, der sich in den Kanälen im Stein fängt.«
»Irre.«
»Ja. Matti, es stimmt nicht, dass es keine Frauen hier gibt. Es gibt eine Frau.«
»Ehrlich? Na, gratuliere. Wandert die da oben mit dir in den Bergen rum? Lauscht ihr zusammen den Vogelstimmen und schlaft auf Moos und lebt von Quellwasser?«
Er klang nicht ironisch. Er klang so, als könnte er sich diese Variante durchaus auch für sich selbst vorstellen. Zur Abwechslung.
»Wir wandern … auch«, sagte Jari. »Wir sind gewandert, lange, vor allem am ersten Tag. Durch eine Klamm, die beinahe ein Tunnel ist. Die Klamm kommt auf der Hälfte des Weges … Aber gestern sind wir geflogen. Über den gelben Birken, bei der Lichtung.«
»Birkenrinde brennt, selbst wenn sie feucht ist«, sagte Matti, der offenbar nicht wirklich zugehört hatte. »Erinnerst du dich? Wir haben das mal in der Schule gelernt …«
»Die Farben hier brennen auch ohne Feuer«, sagte Jari.
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