Solange die Nachtigall singt
ihr im Wald verlieren und wiederfinden könnt, so wie es euch gefällt?«
»Zeisig, Zeisig«, sagte jemand hinter ihm, ein wenig spöttisch. Joana. »Lass deine Wut ohne dich fortfliegen. Komm mit mir und iss etwas. Und lass mich dir etwas erzählen.«
Sie schnitt in der Küche Brotscheiben für ihn, und er zuckte zusammen, als er sie mit dem großen Messer hantieren sah. Dann setzte sie sich auf das Fensterbrett und hob die Oboe an die Lippen. Er lauschte ihrem Spiel. Ihre rechte Hand steckte in einem fein bestickten, dünnen Handschuh. Hatte es etwas mit der Oboe zu tun?
»Joana? Du wolltest mir etwas erzählen?«
Joana setzte die Oboe ab. »Aber das tue ich doch«, sagte sie ernst. Und dann spielte sie weiter.
Jari schloss die Augen. Er versuchte, die Oboe zu verstehen. Sie klagte. Wie das weinende Kind, das er niemals finden würde. Sie erzählte von etwas, das geschehen war: im Wald, auf dem Bild. Hinter den Farben, zwischen den Zeilen, unter den Tönen. Die Bärin sucht ihre Jungen, hörte er Jascha – oder Joana? – wieder sagen. Drei hat sie gehabt, drei sind fortgegangen, sind weggeholt worden, sind nicht zurückgekommen. Aber die Bärin sucht noch immer, jedes Jahr im Herbst. Alle gestohlen, alle verdorben …
»Kannst du Dächer flicken?«, fragte Joana.
Er öffnete die Augen. Sie saß vor ihm, ihr Gesicht berührte seines beinahe. Wann hatte sie aufgehört zu spielen?
»Dächer?«, fragte er verwirrt. »Es kommt darauf an. Einmal habe ich meinem Vater geholfen, das Dach der Tischlerei zu flicken, zu Hause.« Er dachte daran, wie sie nebeneinander dort oben gearbeitet hatten. Schweigend, über sich nur den hohen, blauen Himmel. Vielleicht war das ihr bester Tag zusammen gewesen.
»Gestern Nacht hat es durchgeregnet«, sagte sie. »Da ist nur eine Pfütze im obersten Flur, nicht weiter schlimm. Der wirkliche, große Regen kommt erst.« Sie zeigte hinaus, in den Himmel, der strahlend blau war.
»Es sieht nicht danach aus«, sagte Jari.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts sieht jemals nach dem aus, was es ist. Da ist ein Stapel Dachschindeln im Keller. Vielleicht hat er sie zu diesem Zweck aufbewahrt. Um eines Tages das Dach zu flicken.«
»Euer Vater?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Nein. Der alte Herr, dem das Haus gehört hat. Ich werde die Schindeln aus dem Keller holen.«
»Der … alte Herr?« Jari erinnerte sich an Jaschas – oder Joanas? – Worte, die er vom singenden Felsen aus gehört hatte. Es ist Zeit, die Blumen zu schneiden, die weißen Blumen, die der Alte so liebt. Zeit, ihm welche zu bringen. Es ist Sonntag.
»Wer ist er?«
»Er ist nicht mehr«, sagte Jascha. »Er war. Er ist gestorben. Ich werde gleich wieder da sein, dann hast du Schindeln, so viele du brauchst.«
»Warte!«, rief Jari. »Woran ist er denn gestorben? Und wer war er? Warte doch! Ich kann dir helfen! Ich war noch nie im Keller …«
Doch die Küchentür schloss sich bereits hinter ihr, und als er sie öffnete, war der Flur leer. »Joana?«, rief er. Alles blieb still.
Er wusch seine Kaffeetasse und sah aus dem Fenster. Da saß sie und stickte noch immer. Jari kletterte aus dem offenen Fenster. Er musste sich zusammenreißen, um sie nicht an der Schulter zu packen.
»Welche von beiden bist du?«, fragte er. »Welche?«
Sie sah auf. »Das habe ich dir vorhin gesagt. Joana.«
»Aber du kannst nicht Joana sein. Joana war eben noch mit mir in der Küche. Und sie ist hinunter in den Keller gegangen, um die Schindeln für das Dach zu holen.«
Sie lächelte und leckte den Faden an, der aus dem Nadelöhr gerutscht war. Sie trug einen Handschuh an der Hand, die die Nadel hielt. Vielleicht zum Schutz vor Stichen, dachte er, wie einen Fingerhut. Sie stand auf und legte ihm ihre Hand auf die Brust, jene, die die Nadel verbarg. Sah mit ihren dunklen Augen zu ihm auf. »Sag, tust du das? Tust du das für uns?«
»Was? Das Dach reparieren?«
»Ja. Das … Dach reparieren. Traust du dich dahinauf? Man muss aus einem der oberen Fenster klettern und dann die Steige hinauf, die für den Schornsteinfeger gedacht ist. Der übrigens nie kommt.«
»Ach, sicher schaut er morgen vorbei«, sagte Jari leichthin. Ihm war auf einmal unsinnig zumute. »Zusammen mit dem Gasmann und dem Staubsaugervertreter. Der Mann von der Telekom kommt vermutlich mit, das ist ja praktischer, dann brauchen sie nur ein Auto, um diese unglaublich breite Straße hierher zu nehmen …«
Er ließ sie stehen und ging zum
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