Solange die Nachtigall singt
oben, zu sehr darauf bedacht, nicht zu fallen. Anfangs hatte er sich frei gefühlt, er wusste es noch, aber jetzt war er nur noch erschöpft. Es wurde bereits Abend. Bald kämen die Nebel. Er passte die letzte Schindel ein. Dann packte er das Werkzeug in den Rucksack und kletterte vom Dach.
Er freute sich auf den Abend, freute sich darauf, mit einem Glas Wein in der Hand in die weichen Kissen des Sofas zu sinken wie an den Abenden zuvor. Eine von ihnen saß stets im Feuerschein, bei ihm auf dem Sofa. Die andere hielt sich im Hintergrund, in den Schatten der spanischen Wand. Eine ließ der anderen stets den Vortritt, als wüssten sie, dass Jari die Schönheit von beiden zugleich nicht aushalten könnte, nicht so nah. Sie wechselten sich damit ab, wer bei ihm saß und wer in den Schatten, wer die erste Stimme spielte und wer die zweite. Es waren immer die Oboe und das Cello. Er hatte nie eine von ihnen die Harfe spielen sehen, nur ihre durchscheinenden Töne flogen manchmal wie von selbst durch das alte Haus.
Er kletterte vom Dach und stellte sich unter die Dusche. Seine eigenen Augen, die Moosaugen im Spiegel, waren dunkler geworden, seitdem er hier war. Er fand das Grün des Waldes darin wieder, dort, wo er am dichtesten war, im lichtlosen Tann. Etwas war geschehen im Wald. Nein, dachte Jari plötzlich. Etwas würde geschehen. Er schüttelte sich und beschloss, nicht zum ersten Mal, sich von den Spiegeln fernzuhalten.
Regenschwarz
Er ging in sein Zimmer und wollte sich einen Moment hinlegen, um seine müden Arme auszuruhen, da merkte er, dass etwas an dem Bett verändert war. Etwas war verkehrt. Es dauerte eine Weile, bis er begriff: Unter dem Kopfkissen lugte eine weiße Ecke hervor. Er zog daran – und hielt einen Briefumschlag in der Hand. Jari stand darauf, winzig klein, in einer Ecke, kaum lesbar. Als er den Umschlag eben aufreißen wollte, drangen die Klänge eines Liedes durch das angelehnte Fenster zu ihm. Er steckte den Brief in die Tasche, stand reglos. Lauschte.
Kein Ton soll klingen mehr,
kein Ton.
Und wenn die Nacht sinkt
und die Kälte bringt,
warte ich schon.
Ich seh die Wolken ziehn
und alte Schatten fliehn,
kein Ton.
Lang, dass deine Stimme brach,
bist stumm.
Und wenn der Mond scheint
und wenn ein Kind weint,
frag nicht, warum.
Bist nur ein Traum im Wald,
ewig jung und uralt,
stumm, stumm.
Kein Ton soll klingen mehr,
kein Ton.
Und wenn die Nacht sinkt
und die Kälte bringt,
warte ich schon.
Ich seh die Wolken ziehn
und alte Schatten fliehn,
kein Ton.
Er trat zum Fenster und sah hinaus, und dort, am Waldrand, stand eine der Schwestern in einem bodenlangen Mantel von der Farbe, die sehr tiefes Wasser hat. Wasser im Schatten von Bäumen, dessen Grund man nicht sehen kann. Sie hatte die Hand ausgestreckt, und vor ihr stand ein großer Rothirsch, den Kopf leicht geneigt. Er schnupperte an ihren Fingern wie ein Pferd.
Sie waren wie eine Skulptur, diese beiden, eine unerträglich kitschige Skulptur: Mädchen mit Hirsch. Oder wie Jägermeister-Reklame. Hatte sie ihr Lied für den Hirsch gesungen? Und verstand der Hirsch – im Gegensatz zu Jari –, was die Worte bedeuteten?
Er schloss das Fenster und lief die Treppen hinunter, schlüpfte in die grünen Stiefel, ging um das Haus. Der kleine Platz davor war leer, doch nicht weit entfernt wippten Zweige, dort, wo der Wald begann wie das grüne Ufer eines Meeres. Das Haus, dachte Jari, steht darin wie eine Insel, und ich bin auf dieser Insel gestrandet; ein Schiffbrüchiger in Wellen aus davongleitender Zeit, sicher und gefangen zugleich. Er trat zwischen die Bäume, so leise er konnte, ging vorwärts, bemüht, nicht auf Äste zu treten.
»Du machst Lärm wie ein Elefant«, sagte Joana-Jascha dicht neben ihm.
Er fuhr herum, und da saß sie, zwischen den Bäumen – auf dem Rücken des Hirsches.
»Du … du reitest ihn?«, fragte Jari verblüfft.
»Er ist stärker als jedes Pferd«, antwortete sie lachend.
»Ich wusste nicht, dass man sie zähmen kann …«
»Oh, man kann alles zähmen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Hirsche, Füchse, Singvögel … Komm, mein Zeisig. Komm, komm herauf zu mir.« Sie streckte ihm eine blasse, schlanke Hand entgegen. »Das Gewicht eines so kleinen Vögelchens wird der Hirsch kaum spüren.«
Genau das ist es, dachte Jari, was ich an dir hasse. Diese Art, kokett zu sein, zu flirten und sich zugleich über mich lustig zu machen; auf mich herabzusehen. Aber er nahm ihre Hand und ließ
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