Solange die Nachtigall singt
Hintereingang, um in die tannengrünen Stiefel zu steigen. Die gleiche Farbe, dachte er, wie Jaschas – oder Joanas? – dünne Strumpfhose.
»Da bist du«, sagte Joana – oder Jascha –, die plötzlich vor ihm im Flur stand. Sie trug eine Holzkiste, und als er sie ihr abnahm, war er erstaunt über ihr Gewicht.
»Du bist stark«, sagte er.
Sie nickte. »Wenn man ganz alleine im Wald lebt, muss man stark sein.«
»Aber jetzt habt ihr ja mich«, sagte Jari.
Sie nickte. »Jetzt haben wir dich.«
Sie zeigte ihm das Fenster im obersten Stockwerk, aus dem er klettern musste. Die Leiter für den Schornsteinfeger begann direkt daneben, es war nicht schwer. Er hatte das Werkzeug, das Joana ihm gegeben hatte, in seinen Rucksack gesteckt, und einige der Schindeln. Als er rittlings auf dem Dach saß, war es, als würde er schweben. Er breitete die Arme aus. Waren da noch immer Reste von Fliegenpilzsaft in seinen Adern? Oder … schon wieder? Ihm war seltsam zumute.
»Flieg nicht fort, Zeisig!«, rief Joana von unten, aus dem Fenster.
Jari lachte. »Ich werde es mir überlegen.«
Seine Hände erinnerten sich daran, wie er mit den Schindeln umgehen musste, sie arbeiteten wie von selbst, und es war gut, hier oben zu arbeiten. Ab und zu holte er von unten neue Schindeln. Es gab mehrere Löcher im Dach, wo Stürme und Zeit die Schindeln nach und nach gelockert hatten. Unter Jari lag der Wald, der glühende gelbrote Feuerteppich der Bäume, und als er einmal aufblickte, sah er in der Ferne den klingenden Felsen daraus emporragen.
Er stellte sich vor, sein Vater säße neben ihm.
»Jari, Junge«, sagte er in seiner Vorstellung. »Du hast nichts vergessen. Bist ein guter Handwerker. Es wird trocken bleiben im Haus, wenn der Winter kommt. Er kommt bald.«
»Ach was«, antwortete Jari. »Es ist Anfang Oktober! Ich bin erst vier Tage hier.«
Er sah wieder auf die Bäume hinab. Es war wahr: Sie hatten eine Menge Blätter verloren. Der gelbrote Feuerteppich, den er noch vor Minuten gesehen hatte – oder vor Stunden? Vor Tagen? –, war jetzt stellenweise kahl. Er versuchte, sich an vier Frühstücke, vier Vormittage, vier Nachmittage und vier Abende vor dem Kaminfeuer zu erinnern, vier Nächte in dem großen Gästebett, in dem er stets alleine lag. Aber die einzelnen Szenen gerieten ihm durcheinander, lagen im Nebel, spiegelten sich gegenseitig wider. Er wünschte, er hätte diese Pilze nicht gegessen. Den Wein nicht getrunken. Irgendwo eine Strichliste von Tagen angelegt. Er passte eine weitere Schindel ein.
Unten stand Jascha-Joana vor einer Staffelei. Sie hielt einen Pinsel in der Hand, und jetzt begann sie zu zeichnen. Er kniff die Augen zusammen. Was zeichnete sie? Äste? Die Adern von Blättern? Tierspuren? Ihre Pinselstriche waren, zu seinem Erstaunen, schwarz. Sie zeichnete mit solcher Konzentration, dass sie alles um sich herum zu vergessen schien. Endlich trat sie zurück, und er erkannte, was sie gezeichnet hatte. Es war eine Hand, die eine Pistole hielt.
Jari blinzelte. Er musste sich täuschen.
Zwischen dem Rauschen der Herbstblätter tropften unter ihm die Klänge der Harfe aus einem Fenster. Jascha wusch den Pinsel aus, tauchte ihn in eine andere Farbe. Hob ihn und schüttelte ihn. Rote Tropfen erschienen auf der Leinwand, Tropfen von der Farbe des Waldbeerenweins. Dann strich sie das ganze Bild dunkelrot an, purpurn wie das bestickte Tuch, aber nicht sorgfältig, sondern mit großen, fahrigen Bewegungen, malte in das noch feuchte Schwarz. Das Rot wurde schmutzig, wurde dunkler, sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Hand arbeitete fieberhaft, jetzt tauchte sie den Pinsel wieder in die schwarze Farbe, strich Schwarz über Rot, rascher und rascher, und schließlich war da nur noch eine einzige schwarze Fläche. Er sah sogar von hier oben, dass sie schwer atmete.
Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen. Sie waren beinahe kahl.
Die schwarze Farbe auf der Leinwand schien getrocknet zu sein; Jascha begann, silberne Sterne daraufzumalen. Silberne Silhouetten von Bäumen, von filigranen Blättern, Augen von Tieren, schleichende Pfoten. Sie malte den Wald bei Nacht. Hinter den Farben jedoch, unter den Tönen, zwischen den Zeilen, war etwas im Wald geschehen. Etwas, das kein Besucher der kleinen Galerie jemals erfahren würde.
Maltag, dachte Jari, Sonntag ist Maltag. Es war schon Sonntag! Seit Montag arbeitete er hier oben. Höchste Zeit, fertig zu werden. Sein Rücken schmerzte, er saß verkrampft hier
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