Solange die Nachtigall singt
sich auf den Rücken des Hirsches ziehen, und wieder wunderte es ihn, wie kräftig sie war. Sie saß jetzt hinter ihm, er konnte ihren übermütigen Blick nicht mehr sehen, spürte nur ihren warmen Körper, ganz nah. Sie ließ den Hirsch antraben wie ein Pferd, und Jari duckte sich, um den Ästen des Waldes zu entgehen.
»Welche Schwester bist du?«, fragte er, und sie lachte wieder.
»Joana. Welcher Zeisig bist du?«
»Ich bin nur ich«, antwortete Jari, doch für einen Moment war er verunsichert. Er dachte an den Spiegel-Jari mit den Augen, die mehr zu wissen schienen als er selbst. War auch er drauf und dran, sich in zwei zu teilen? Mittendurch zu reißen? Ein Cizek wollte bleiben und einer gehen. Einer wollte mit Joana auf diesem Hirsch durch den Wald preschen, durch die bunten Herbstblätter, und den Wind im Haar spüren. Der andere wünschte sich weit fort. Ein Cizek wollte wissen und sehen, der andere wollte die Augen verschließen vor allen Wahrheiten, die vielleicht auf ihn warteten. Joana hatte ihre Arme um seine Hüften gelegt, ihr Mantel war an einer Seite hochgerutscht, und da sah er die Narbe. Die Narbe am Arm, die Narbe am Bein. Und er triumphierte im Stillen. Es gab doch einen Weg, die Schwestern auseinanderzuhalten. Joana hatte die Narbe am Arm. Merk es dir, sagte er sich, merk es dir genau …
»Was ist geschehen mit deinem Arm?«, fragte er und spürte, wie sie sich hinter ihm versteifte.
»Das ist nicht wichtig. Es ist lange her. Vielleicht erzähle ich es dir … irgendwann. Eines Tages. Nicht heute.«
»Du hast Angst«, sagte Jari. »Wovor hast du Angst?«
»Schau! Da ist das dunkle Auge. Weißt du noch, wie wir darin geschwommen sind? Es war eiskalt, aber du hast darauf bestanden …«
Sie hielt den Hirsch an, und die Flanken des Tieres bebten unter Jari, während er auf den See hinunterblickte. Glänzend und kreisrund lag er da, schwarz, unergründlich. Er suchte das Kreuz im Felsen und fand es, genau gegenüber. Der Ahorn streckte seinen Ast noch immer über das Wasser, doch es hingen kaum mehr rote Blätter daran.
»Du hast gesagt, dort liegt ein unglücklicher Mensch begraben«, sagte Jari.
»Habe ich das?«
»Vielleicht war es Jascha. Aber erzähl mir, wer war dieser unglückliche Mensch?«
»Ein Wilderer. Er kam von Osten in unseren Wald.« Sie flüsterte jetzt, und er spürte, dass sie zitterte. »Wir haben ihm ein Bett gegeben und ein Abendessen. Seine Augen waren dunkel wie das dunkle Auge des Sees. Er war älter als du, viel älter, trug ein Gewehr bei sich. Zog durch die Wälder, lebte davon, das Wild schwarz zu verkaufen … Ich weiß nicht, wer er wirklich war, was er erlebt hatte. Er hat für uns gesungen, am Abend, beim Feuer. Eine schöne Stimme hatte er … Und dann fanden wir ihn hier. Er hat sich aufgehängt, am Ast des Ahorns über dem See. Wir haben ihn begraben.«
Jari schluckte. »Das … ist eine sehr traurige Geschichte.«
»Die meisten Geschichten sind traurig«, sagte Joana.
Er drehte sich zu ihr um, er war ihrem Gesicht sehr nah. »Du weinst.«
Joana wischte die Tränen mit dem Ärmel ihres Mantels fort. »Das ist nur der Morgentau«, sagte sie. »Er gerät einem in die Augen …«
»Es ist nicht Morgen.«
»Dann muss es der Tau von übermorgen sein.« Sie lachte. »Man sollte nicht zu lange am Ufer des Sees bleiben. Er macht einen melancholisch.« Damit ließ sie den Hirsch weitertraben. Und Jari versuchte, sich den Weg einzuprägen, durch den sie ritten – die Bäume, an denen sie vorüberkamen. Doch das Spiel ihrer Farben, der Tanz ihrer Äste im Wind war zu verwirrend. Einmal glaubte er, in der Ferne einen bekannten Abhang zu sehen.
»Dort«, sagte er. »Können wir dorthin reiten? Dort gibt es eine Höhle im Hang.«
»Eine Höhle?«, fragte Joana, ohne die Richtung zu ändern.
»Eine Höhle, voll von Steinen, unter denen kleine graue Federn schlafen«, sagte Jari. Und er wusste selbst nicht, warum er hinzufügte: »Die Nachtigallenhöhle.«
Der Hirsch machte einen Satz, Zweige verfingen sich in Jaris Haar und rissen daran. Er duckte sich tiefer über den Hals des Tieres.
»Schsch, schsch!«, machte Joana. »Ruhig! Etwas hat ihn erschreckt. Ein Geräusch im Wald. Der Wind in den Ästen.« Sie streckte ihre Hand an Jari vorüber nach vorn und klopfte den Hals des Hirsches, und Jari legte seine Hand auf ihre und ließ sie dort liegen. Ihre Hand war kalt.
»Wohin reiten wir?«, fragte er. »Haben wir ein Ziel?«
»Die Schlucht. Wir
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