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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Küche, es war die Küche eines anderen, mit dem er Dinge besprechen musste, die niemand besprechen wollte. Er saß am Küchentisch und stützte den Kopf in die Hände, er wartete auf den anderen, der andere hatte gesagt, er käme gleich. Er hatte ihm das Päckchen gezeigt, ein braunes wattiertes Päckchen. Es enthielt ein weiteres, kleineres Päckchen, etwas, das in mehrere Lagen Mull gewickelt war. Eine Botschaft, die keine Worte brauchte. Da war Blut auf den Mullbinden.
    Sie hatten im Büro diskutiert, sie hatten in einem anderen Büro diskutiert, und nun würden sie die endlosen Diskussionen in einer Küche weiterführen, aber auch das würde nichts nützen. Es gab keine Lösung. Sie würden nicht tun, was er wollte, sie konnten nicht tun, was er wollte, oder besser, was die wollten, die das Päckchen geschickt hatten.
    Er drückte die Zigarette in der Teetasse aus, achtlos, er war sonst ein korrekter Mensch, ein höflicher Mensch, bedacht auf makelloses Benehmen. Seine Hände waren nass von Tränen. In seinem Portemonnaie steckte ein Bild von drei kleinen Mädchen, aber er wagte nicht, es herauszunehmen und anzusehen.
    Er erinnerte sich an die Zeiten, in denen sie klein gewesen waren, wirklich klein, er erinnerte sich, wie sie das Krabbeln gelernt hatten, das Laufen, das Sprechen. Nein, er belog sich, er erinnerte sich nicht, denn er war nicht dabei gewesen. Er hatte die besten Kindermädchen bezahlt. Aber die besten Kindermädchen sind kein Vater und keine Mutter.
    Er hatte die Mädchen schmerzlich vermisst all die Jahre. Eine Weile war es besser gewesen, als sie im gleichen Land gelebt hatten wie er, er hatte sie häufiger gesehen. Aber dann war es zu gefährlich geworden, und sie hatten ihn die Mädchen zurückschicken lassen nach Deutschland.
    Aber auch Deutschland war nicht sicher. Jetzt wusste er es.
    Ihre Mutter hatte die drei verlassen, als sie die Welt zum ersten Mal gesehen hatten, sie war still davongegangen, im Nebel verschwunden, am Ende eines Weges. So jedenfalls träumte er es. Er besuchte ihr Grab, wenn er im Land war. Ihre Mutter, dachte er, wird nie von dem Schrecklichen erfahren, das jetzt geschehen ist.
    Wenn sie Geld gewollt hätten! Nur Geld! Geld hätte er beschaffen können. Irgendwie. Er hätte alles getan. Er hatte ihnen welches angeboten. Sie wollten kein Geld. Sie wollten Waffen. Sie wollten Unterstützung. Er konnte keine ganze Regierung auf ihre Seite bringen, eine Seite, auf der er nicht einmal stand, er stand auf keiner Seite, er war dazu da gewesen, zu vermitteln.
    Er verwünschte sich. Er verwünschte seinen Beruf. Er verwünschte die Welt. Er wickelte die Mullbinden noch einmal ab, er wusste, dass es keine gute Idee war. Er tat es trotzdem. Er hielt den winzigen abgetrennten Finger in der Hand. Dann rannte er ins Bad und übergab sich. In seinem Kopf sangen die Stimmen der drei kleinen Mädchen, seiner kleinen Mädchen. Seiner Nachtigallen. Vielleicht würden sie nie wieder singen.
    Jari wusste später nicht, wie lange er im Unwetter gelegen hatte. Stunden. Tage. Jahre.
    Vielleicht konnte Joana den Hirsch nicht anhalten, vielleicht ging er durch, scheute vor dem wogenden Unwetterwald. Vielleicht fand sie ihn nicht wieder in der zerrissenen Dunkelheit. Vielleicht hatte sie beschlossen, ihn liegen zu lassen. Er war ihr zu nahe gekommen, oder beinahe zu nahe gekommen, sie hatte das nicht gewollt. Die Nacktheit ihrer nassen Kleidung war nicht ihre Schuld oder ihre Absicht gewesen.
    Idiot, Idiot, Idiot.
    Es musste eine Rippe sein. Eine gebrochene Rippe. Gott hatte Eva aus einer Rippe Adams gemacht, er erinnerte sich an die vielen Stunden in der Kirche und daran, wie seine Mutter ihm die Genesis vorgelesen hatte. Er hatte sie nie verstanden. War es nicht vielmehr so, dass Adam aus einer Rippe Evas Gott gemacht hatte? Er hatte versucht, das mit Matti zu diskutieren, aber Matti war unempfänglich für Abstraktes.
    »Ich meine das folgendermaßen«, hatte er zu Matti gesagt, zwischen vier und fünf Uhr morgens, mit einem Bier in der Hand, auf dem schmalen Küchenfensterbrett. »Du, Adam, du siehst dir die Frauen an, Eva und ihre Kolleginnen, und dann nimmst du dir ein Detail wie eben eine Rippe … nein, nicht wirklich eine Rippe, irgendetwas: ein Ohr, eine Brust, ein Lächeln. Und du machst daraus deinen eigenen Gott, du fängst an, dieses Ohr, diese Brust, dieses Lächeln anzubeten … obwohl nichts daran wirklich göttlich ist. Die Liebe ist eine einzige Einbildung.«
    »Du bist ja

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