Solange die Nachtigall singt
auch den«, sagte sie. »Ein weißer Stein am Anfang, ein weißer Stein am Ende. Es ist leicht.«
»Habt ihr die weißen Steine dorthin gelegt?«
»Nein. Der Alte.«
»Er muss die Farbe Weiß wohl mögen«, sagte Jari. »Weiße Blumen, weiße Steine.« Er drehte sich halb zu ihr um. Sie musste jetzt fragen. Woher weißt du das mit den weißen Blumen? Sie konnte nicht wissen, dass er sie belauscht hatte am singenden Felsen. Sie würde fragen, und er würde ihr sagen, was er gehört hatte, und dann würde sie ihm endlich erklären, wer der Alte war.
Aber sie fragte nicht. Sie sagte: »Schau an. Da ist er.« Und einen Moment lang glaubte Jari, sie spräche von ihm, von dem Alten.
»Das ist er? Wer?«, fragte Jari.
Sie hatten den Rand der Schlucht erreicht, der Nebel füllte sie jetzt ganz und gar.
»Der Regen«, sagte Joana und breitete die Arme aus. Auf ihrem Handschuh malten die Tropfen ein dunkles Muster. Jari beschloss, ein andermal nach dem Alten zu fragen. Er war das Fragen und das Keine-Antwort-Bekommen so leid. Er hob das Gesicht und ließ die Tropfen darüberlaufen. Sie waren kühl auf seiner Haut, wie Wasser, das man sich am Morgen ins Gesicht wirft, nach einer durchzechten Nacht. Beinahe erwartete er, plötzlich aufzuwachen. Und der Wald, das alte Haus mit den ausgestopften Füchsen, die Schwestern, die Schönheit, all das wäre nichts als Traum gewesen, von dem er Matti erzählen würde, wenn sie nebeneinander in der Tischlerei irgendwelche Bretter zurechtschliffen.
Er erwachte nicht. Er wurde nur nasser. Der Regen prasselte jetzt vom Himmel wie ein Wasserfall; es war, als hätte er sich entschlossen, den goldenen Oktober ein für alle Mal fortzuwaschen aus dem Wald. In der Ferne hörte Jari die ersten Donnerschläge. Er duckte sich über den Hals des Hirsches, er spürte, wie Joana ihren Kopf an seinen Rücken legte; sie bildeten eine Einheit gegen das Unwetter. Es war dunkler geworden. Blitze zerrissen die Luft.
»Sieh dich um!«, rief Joana. »Siehst du die Schönheit des Gewitters? Auch das Gewitter ist schön!«
Und da sah Jari die Ornamente des Sturms, die Schönheit der Blitze, der plötzlichen Schatten, der sich biegenden Äste. Joana presste sich an ihn, er fühlte ihre Brüste an seinem Rücken, und obwohl er jetzt nass war bis auf die Haut, spürte er die Kälte des Regens auf einmal nicht mehr.
»Ja«, flüsterte er und wusste, dass sie ihn im Sturm nicht hören konnte, deshalb sagte er Dinge, die vermutlich klangen wie aus einem schlechten Film, »ja, der Regen ist schön. Lass uns immer und immer so weiterreiten, durch den Wald, durch das Unwetter, lass uns den goldenen Sonnenschein vergessen. Im Sonnenschein kann man sich zu leicht voneinander lösen, aber im Regen muss man zusammenhalten. Bleib da. Bleib bei mir.«
»Mein Zeisig«, antwortete sie; sie hatte ihn doch gehört. »Mein Zeisig, ich wünschte, es könnte so sein. Ich wünschte, wir könnten immer und immer durch das Unwetter reiten, nur wir beide allein! Aber ich bin die Vernünftige, vergiss das nicht …«
Er drehte sich zu ihr um. Sie war so nass wie er, Mantel und Kleid klebten an ihr, sie war, in gewisser Weise, nackt. Nackter noch als am See. Er wollte nicht vernünftig sein. Er wollte alle Vernunft vergessen. Er war sogar bereit, Jascha zu vergessen.
Jari löste seine Hände vom Hals des Hirsches, streckte sie aus, um Joana zu berühren – und in diesem Moment verlor er das Gleichgewicht und stürzte. Die Welt taumelte vorüber, etwas Rotes, Heißes durchzuckte ihn, und er blieb keuchend liegen, mitten im nassen Laub. Einen Augenblick lang konnte er nicht atmen vor Schmerz. Er hielt die Augen fest geschlossen. Der Sturm heulte noch immer um ihn, der Regen prasselte auf ihn nieder. Idiot. Niemand lässt mitten im Galopp das Tier los, auf dem er reitet. Er versuchte, sich aufzurichten, doch der stechende Schmerz hinderte ihn daran. Der Schmerz saß in seiner Brust.
»Joana?«, flüsterte er. Auch das Wort tat weh. Er konnte nicht rufen. Er öffnete die Augen und sah den Wald über sich schwanken im Sturm. Der nächste Blitz, der ihn erhellte, war sehr nah. »Joana, wo bist du? Komm … komm zurück … bitte!«
Und durch den Schmerz hindurch spürte Jari, dass etwas in seiner Hosentasche drückte, seltsam, es gerade jetzt zu spüren. Der Briefumschlag. Er hatte ihn völlig vergessen. Vermutlich war es ohnehin zu spät. Der Umschlag war so nass wie alles an ihm.
Er saß am Küchentisch, es war nicht seine
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