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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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brauchen den Kalk für eine der Farben, mit denen wir unseren Stoff färben. Hat Jascha dir die Schlucht gezeigt?«
    »Nein.«
    Joana seufzte. »Wer in diesem Wald unterwegs ist, sollte die Schlucht kennen. Es ist gefährlich, sie nicht zu kennen und plötzlich davorzustehen. Jascha muss es vergessen haben. Sie ist nicht ganz sie selbst, seit du hier bist. Oder zu sehr sie selbst.«
    »Wer von euch hat mich geholt? Aus dem Dorf?«
    »Geholt? Ich dachte, du hättest selbst entschieden, herzukommen.«
    »Also war sie es«, murmelte Jari. »Jascha. Jascha war in der Galerie.«
    »Nimm dich ein wenig in Acht«, sagte Joana. »Was Jascha betrifft. Sie ist manchmal …«
    »Was? Was ist sie?«
    »Unberechenbar.«
    »Unberechenbar? Jascha?« Er warf den Kopf zurück und lachte, vielleicht ein wenig zu laut. »Aber du, du bist berechenbar, ja?«
    »Eher«, sagte Joana ernst. »Ich bin die, die dich neckt. Ich bin die, die auf dich herabsieht und die du manchmal hasst. Aber ich bin auch die Ältere, die, die vernünftig bleibt.«
    Sie hatte den Hirsch wieder angehalten, und Jari sah, dass es vor ihnen keinen Boden mehr gab. Ein Riss klaffte im Wald, vielleicht zweihundert Meter weit, gesäumt von kahlen, senkrechten Felswänden. Er war breiter als die Klamm, durch die Jascha ihn geführt hatte, jedoch genauso wenig einladend.
    »Ich will nicht, dass sie sich selbst verletzt«, sagte Joana. »Und ich will nicht, dass sie dich verletzt, verstehst du? Also lasst die Finger voneinander.«
    Damit ließ sie sich vom Rücken des Hirsches gleiten, und Jari kletterte umständlich herunter, wobei er vermutlich wieder einmal eine ziemlich lächerliche Figur abgab. Dich verletzt, dachte er. Die Finger voneinander. Nicht ganz sie selbst, seit du hier bist. Er schüttelte den Kopf.
    Joana stieg über die Brombeerranken am Rand der Schlucht, und als Jari ihr folgte, sah er, dass dort, hinter den Ranken, wo die Schlucht steil abfiel, ein Pfad begann, der hinunterführte.
    »Merk dir die Stelle«, sagte Joana. »Da liegt ein großer weißer Stein zwischen den Brombeeren. Es gibt zwei Wege in die Schlucht hinab, und wo sie beginnen, liegen weiße Steine. Oben und auch unten in der Schlucht.«
    Es war mühsam, den Pfad hinunterzuklettern, immer wieder hörte Jari die Hufe des Hirsches rutschen. Er selbst hielt sich dicht an der Felswand und atmete auf, als sie unten waren. Die Schlucht war schön wie alles im Wald, ihr Grund war bewachsen mit wilden Rosen. Es hing eine Ahnung von Sommerduft in ihren späten Blüten. Zwischen ihnen floss ein klarer Bach, und der Hirsch beugte den Kopf, um zu trinken. Joana begann, mit einem Messer Kalk aus einer der Felswände in einen Lederbeutel zu schaben. Es war das gleiche Messer, mit dem sie den Fliegenpilz geschnitten hatte, und wieder zuckte Jari zusammen, als er die scharfe Klinge im Licht glänzen sah.
    An der Hand, die den Beutel hielt, trug Joana einen Handschuh.
    Warum trug sie nur einen Handschuh?
    »Sag mir eins, Zeisig«, flüsterte sie. »Hast du Angst?« Das Messer blitzte in ihrer Hand, sie wischte es an einem Grasbüschel sauber und betrachtete die Klinge. »Vor uns?«
    »Ich … nein, wieso … nein«, stotterte Jari.
    »Dann ist es gut.« Joana nickte. »Es gibt Leute, die Angst haben. Was hat Tronke zu dir gesagt?«
    »Tronke?«
    »Der Förster. Er hat erzählt, du hättest mit ihm gesprochen. Manchmal begegnen wir uns im Wald.«
    Jari nickte. Was hatte Tronke gesagt? Keiner versteht diese Mädchen.
    »Irgendetwas über Wildschweine«, antwortete er. »Und dass er im Wald jagt.«
    »Zu wenig. Er jagt zu wenig. Er schießt die Wölfe nicht.«
    »Die Wölfe darf er gar nicht schießen«, sagte Jari. »Und das weißt du so gut wie ich. Jascha hat gesagt, sie fürchtet sich nicht vor ihnen.«
    »Jascha ist unvernünftig, das habe ich dir schon erklärt. Aber Tronke … Sonst hat er nichts gesagt? Über …« Sie verstummte.
    »Über was?«
    »Nichts. Lass uns zurückreiten. Das ist genug Kalk.« Sie zog den Beutel zu und steckte ihn unter ihren Mantel. »Die Nebel kommen.«
    Jari ließ sich von ihr auf den Rücken des Hirsches zurückhelfen – obwohl es ihm peinlich war –, und dann ritten sie an dem kleinen Bach entlang. Tatsächlich kamen die ersten milchigen Zungen bereits angekrochen, schlangen sich um die Hufe des Hirsches und deckten den Bachlauf zu wie Schnee. Joana lenkte den Hirsch einen anderen Pfad hinauf, diesmal saß sie nicht ab, der Pfad war weniger steil.
    »Merk dir

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