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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Nein, dachte er, es hat keinen Sinn, das Zimmer zu verlassen und hinunterzugehen, durch den dunklen Flur. Nur der Schmerz in seiner Brust würde größer werden. Das Kind, so viel wusste er, würde er nicht finden.

Brandorange
    »Vier Wochen«, sagte Jari. »Bin ich wirklich seit vier Wochen hier?«
    Er legte die Hände um seine Kaffeetasse. Der Morgen war kühl vor den Fenstern der Küche. Oder vielleicht brauchte er nur etwas, an dem er sich festhalten konnte, etwas Greifbares, Konkretes wie eine Tasse.
    Er sah die Schwestern an. Sie saßen auf der Küchenbank, die Rücken in der Ecke gegeneinandergelehnt, die Beine auf die Bank gestellt: ein Kunstwerk aus zwei absolut symmetrischen Körpern, gekleidet in leichten, honiggelben Stoff. Draußen glänzte der Wald nass vom Regen der Nacht.
    »Ein Monat«, sagte eine von ihnen. Sie trug einen Handschuh an der linken Hand, hauchdünn und goldgelb wie ihr Kleid.
    »Dreißig Tage«, sagte die andere. Auch sie trug einen einzelnen Handschuh, allerdings an der rechten Hand. Wozu?
    »Ich dachte, es wäre eine Woche«, murmelte Jari und schüttelte den Kopf. »Wo habe ich all die Tage verloren?«
    »Du hast sie nicht verloren, mein Zeisig«, sagte Jascha-Joana, und Joana-Jascha nickte.
    »Du hast sie gewonnen. Lauter goldene Herbsttage hast du gewonnen. Die Sonne in den Ästen, den Sonntagschoral des Waldes und auch den Sturm.«
    »Und eine gebrochene Rippe«, knurrte Jari. »Das war der Hauptgewinn.« Er sah von einer Schwestern zur anderen. Welche von ihnen hatte ihn aus dem Wald geholt?
    »Das Dach ist in jedem Fall dicht«, sagte er. »Der Acker gepflügt, die Äpfel gepresst. Es ist Zeit …«
    In diesem Moment klopfte es hinter ihm ans Küchenfenster, drei Mal, sehr laut, und Jari fuhr herum. Hinter der Scheibe war ein grobes Gesicht zu sehen, halb verborgen von den Herbstzweigen, die in ihrer Vase auf dem Fensterbrett standen. Ein struppiger Bart wucherte um das Kinn, mehrere Blätter hingen darin. Der Besitzer des Gesichts drückte die Nase ans Fensterglas und starrte mit wässrigen, fischblauen Augen in die Küche. Dann hob er eine große Hand, eine Pranke, und winkte. Der breite Mund unter seiner platt gedrückten Nase lächelte.
    »Branko«, sagte Jascha – wenn es Jascha war.
    Branko lachte wie ein Kind.
    Kurz darauf hörte Jari ihn durch die Vordertür poltern, und dann stand er in der Küche. Er setzte eine altmodische Kiepe auf den Boden, ähnlich der, in der Jascha die Bilder getragen hatte. Und schließlich streckte er die Hand aus, um die von Jari zu schütteln.
    »Bra  … Branko«, sagte er und zeigte auf sich. Dann zeigte er auf Jari. »Du?«
    »Ich … ich bin …«, begann Jari und fragte sich, was Branko am besten aussprechen konnte. Jari? Cizek? Zeisig?
    »Ich-bin-ich-bin«, wiederholte Branko ernsthaft, ließ Jaris Hand los und klopfte ihm dafür auf die Schulter. Er ist wie ein Bär, dachte Jari, oder wie der Sturm – eine Naturgewalt, gegen die man nichts ausrichten kann. Der Bär ließ sich schwer auf die Bank fallen, noch immer lächelnd. Jetzt sah er die Schwestern an und zog ein Stück Papier aus der Tasche.
    »Da«, sagte er und legte das Papier auf den Tisch.
    Joana entfaltete es, während Jascha Branko Kaffee eingoss. Die Tasse wirkte winzig in seinen Händen, als könnte es passieren, dass er sie aus Versehen verschluckte. Doch er behandelte das Porzellan so vorsichtig wie ein kleines, hilfloses Tier.
    »Die Galeristin, Jascha«, sagte Joana. »Sie hat die Bilder verkauft. Sie schreibt, dass sie Branko das Geld nicht mitgeben wollte. Wir sollen vorbeikommen, schreibt sie, und etwas Neues mitbringen.«
    »Wir haben zwei Bilder«, sagte Jascha, die jetzt den Brief in der Hand hielt. »Und eine Rolle bestickten Stoff. Ich werde gehen. Gleich nach dem Frühstück.« Sie ging zum Fenster und öffnete es weit, aufgeregt wie ein Kind. »Schau, der Himmel ist wieder klar. Besser, wir gehen jetzt ins Dorf, ehe das Wetter endgültig schlecht wird.« Jari drehte sich zu Joana um, doch Joana saß nicht mehr auf der Bank. Vielleicht holte sie neuen Kaffee aus der Küche.
    »Branko bleibt hier«, sagte Branko. »Branko Hunger. Branko müde, Weg ist lang. Augenbeine schwer.«
    »Natürlich wirst du bleiben«, sagte Jascha. Sie trat hinter ihn und fuhr ihm durch das kurze, dunkle Haar, das in merkwürdigen Büscheln auf seinem Kopf wuchs, als hätte er versucht, es mit einem stumpfen Messer abzuschneiden. »Joana wird ja da sein. Du brauchst eine

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